Wo die grauen Säue tauchen

Die Turopoljer waren mal eine berühmte Schweinerasse. Auf der Suche nach den letzten Überlebenden.

Von Jörg Albrecht

Wer, vielleicht an einem sonnigen Herbsttag, am Millstätter See das Schiff besteigt, der hat es zum Laggerhof nicht mehr weit. Im Takt der Ausflugsdampfer fallen die Gäste ein. Mit den Gästen kommen die Wespen, angelockt von Frittatensuppe, Knödeln und Kaiserschmarrn. Es leuchten die Almen, Kärnten gibt sein Bestes. Und wenn einmal alle zusammen andächtig schweigen, dann kann es passieren, dass vom nahen Waldrand her ein Grunzen herübertönt.

"Des san unsere Schweine", sagt Elisabeth Kohlmeier, die Tochter des Hauses, "ganz besondere Schweine san des." Inwiefern? Na, sagt Elisabeth Kohlmeier, ziemlich wilde Schweine. Im Sommer wie im Winter draußen. Brauchen keinen Tierarzt. Würden sich zum Ferkeln Nester bauen. Schwimmen könnten sie. Tauchen täten sie. Besonders gern nach Muscheln. Moment mal, sagt der Gast.

Schweine, die nach Muscheln tauchen? Vielleicht mit Schnorchel? Man kann ja viel erzählen. Wenn der Tag lang ist. "Jawohl", sagt Elisabeth Kohlmeier, "so san sie, die Schweine." Der ORF hätte sogar einen Film gemacht. Mit dem Direktor Pechlaner vom Tierpark Schönbrunn.

Aussenaufnahme, Totale: Durchs Bild rennt eine Herde Schweine. Helmut Pechlaner: "Wir befinden uns hier am Laggerhof im schönen Kärnten. Neben mir steht der Herr Kohlmeier, erzählen Sie doch mal, wie sind Sie zu diesen Schweinen gekommen?" Josef Kohlmeier: "I hob da vor finfazwonzig Joar a kloans Ferkel, an Eber, kauft, der hot so an schwoazn Punkt habt auf d' Nasn.. Da hob i 'n einkreuzt, nacha san die Schweine olle scheckat worn." (Aus dem ORF-Beitrag Treffpunkt Natur, Februar 1994)

Gescheckt sind sie. Das beweist der Film. Aber das ist kein Beweis für gar nichts. Und Josef Kohlmeier, der es am besten wissen müsste, hüllt sich in Schweigen. Mit seinen Schweinen ist er eigen. Was geht es fremde Leute an, ob sie seilhüpfen oder tauchen oder Klarinette spielen? Auch als das Fernsehen damals kam, war er wenig begeistert. Wozu, fragte er, wollt ihr meine Schweine filmen? Aber Herr Kohlmeier, sagten die vom ORF, dann werden Sie berühmt! Wozu, fragte Josef Kohlmeier, soll ich berühmt werden? Mit von der Partie war der Magister Franz Punz vom österreichischen Verein zur Erhaltung gefährdeter Haustierrassen (VEGH). Zehn Jahre lang hatte er vergebens nach solchen Schweinen gefahndet. Da müssen wir eine Blutprobe nehmen, sagte der Direktor Pechlaner. Unbedingt, bekräftigte der Magister Punz. Wozu?, fragte Josef Kohlmeier. Meine Schweine sind nicht krank. Ergebnis: Der Tierpark Schönbrunn hat dem Laggerhof acht Ferkel abgekauft.

Inzwischen ist es Zeit für die Brettljause. Versuchen wir's noch mal. Darf man die Schweine sehen? Jo, freilich. Oben am Wald stehen sie. Teils im Stall, teils auf der Wiese. Zufrieden sieht ein Schwein aus, wenn es auf der Wiese wühlt. Hat es genug gewühlt, lässt es sich auf die Seite fallen. Liegt still da und schließt die Augen. Was ihm dabei durch den Kopf geht? Dass es wegen der Gäste nicht mehr in den See darf? Angenommen, an der Geschichte ist was dran: Können Schweine das Tauchen auch verlernen? Oder haben sie's in den Genen?

Von solchen Fragen relativ unberührt, verarbeitet die Familie Kohlmeier pro Jahr um die 20 Schweine zu Braten, Wurst und Speck. Zeitweise hat der Vater 200 Stück besessen, man nennt ihn nicht von ungefähr den Schweinebaron. Seit sein Sohn Ferdinand den Hof übernommen hat, begnügt er sich mit weniger.

Wichtig, sagt Elisabeth Kohlmeier, sei vor allem, dass man die Schweine zum rechten Zeitpunkt schlachtet. Also im "alten Schein", kurz vor Neumond, sonst gehen nachher die Würmer an den Speck. Ah, ja. Und weiter? Doch, sagt Elisabeth Kohlmeier, wo sie herkommen, die Schweine, da tauchen sie nach Muscheln. Nämlich aus dem Turopolje kommen die Schweine. Das ist nun ein Punkt, der sich überprüfen lässt.

"Im Turopolje, auf diesem entzückenden Stückchen Tiefland, das an seinen Rändern mit einem Kranz von Eichenwäldern geziert ist, gab es schon in grauen Vorzeiten ein wahres Dorado für das kroatische Hausschwein, das sich dahier nach eigenem Gutdünken bewegen kann. So genießt es auf der Hude die angenehmen, ach so kurzen Tage seines Lebens" (übersetzt aus: Gustav August “Vichodil, O pasmina svinja i njihovoj gojitbi”, Osijek 1902).

Ein Dorado? Für Schweine? Wir machen uns auf ins kroatische Hinterland. Und ahnen nicht, dass sich das Ganze bald zum Lehrstück entwickeln soll. Gleich in drei Fächern: Wirtschaft, Ökologie, Genetik.

Kapitel eins lernen wir während der Fahrt. Die Bahnstrecke Klagenfurt-Belgrad führt durch altes Kulturland. Grenzbeamte steigen zu, Zöllner steigen aus. Was bleibt, ist der Ausblick auf die Save. Ihr Wasser kommt, je nach Jahreszeit, aus den Karawanken, dem Dinarischen Gebirge oder dem Pannonischen Becken. Manchmal auch von überall her. Innerhalb kurzer Zeit steigt dann der Flusspegel bis zu neun Meter. Die so genannten Polje (wörtlich: Felder) links und rechts der Save wurden früher regelmäßig geflutet. Daraus hat sich im Laufe der Zeit ein eigenartiges Wirtschaftssystem entwickelt. Unter anderem zählt dazu die Hudemast.

Hudewirtschaft gab es ursprünglich in ganz Europa. Das Vieh wurde entweder frei auf der Weide gehalten. Oder in den Wald getrieben, wenn die Wiesen nichts hergaben. Der Raubbau bekam dem Wald schlecht. Die Forstwirte bereiteten dem ein Ende. Seit 200 Jahren ist die Waldhude praktisch abgeschafft. Nur südlich von Zagreb, im ehemaligen Grenzland zwischen Österreichs Monarchie und Osmanischem Reich, hat die alte Form der Landwirtschaft bis heute überlebt. Die Save fließt hier noch ungebändigt und formt weite Teile der Landschaft. Siedeln konnten die Bauern nur an wenigen Stellen. Die Weiden ringsherum verwandeln sich bei Hochwasser in Seen. Wo nicht gerodet wurde, wachsen Auenwälder. Vor allem gedeiht hier die Stieleiche, und zwar in einer besonderen Form - als "slawonische Späteiche" treibt sie erst aus, wenn die Schneeschmelze in den Bergen vorbei ist. Und nur hier hat sich eine Rasse wie das Turopoljer Schwein entwickeln können.

"Kennzeichen des Turopoljer Schweins: Der Kopf weist eine massive Stirn und einen geraden, nicht zu langen Rüssel auf. Typisch sind die breiten, bis über die Augen reichenden Schlappohren. Das Fell ist grau und durchsetzt von handtellergroßen dunklen Flecken" (aus: Goran Gugic, Schweinehut und Waldmast im Lonjsko Polje).

In Muzilovica regnet es. Schon den ganzen Tag. Grau ist der Himmel, schwarz verwittert das Haus von Ivan Adamovic, gebaut vor langer Zeit, wie die meisten im Dorf, ohne Nagel, aus massiver Eiche. Der Hof ist eine einzige Pfütze. Selbst die Hühner haben sich in den Stall verzogen. An einem trüben Tag im Herbst, unter kroatischem Dauerregen, der alle Wege in Schlammpartien verwandelt, klingt die Geschichte von den schwimmenden Schweinen nicht mehr ganz so abwegig.

Am Waldrand stehen sie. Von den Eichen tropft es. Ivan Adamovic schultert einen Beutel mit Maiskörnern und nähert sich seinen Schweinen mit Bedacht. "Hmmmhmm", summt er. Das Turopoljer Schwein lebt wie sein Gevatter, das Wildschwein, ganzjährig unter freiem Himmel. Geschart um die Muttersau, zieht es in Rotten umher und würde sich wenig um den Hirten kümmern, hätte der nicht den Beutel mit dem Mais dabei. Turopoljer Schweine lieben Mais, aber sie kommen ohne Zusatzfutter aus. Weil sie ohnehin ausgraben, was sie zum Leben brauchen: Wurzeln, Knollen, Engerlinge, Würmer. Sie brechen den Boden, wie der Förster sagt. Der Förster hat keine gute Meinung von den Schweinen.

Der Forstbiologe Goran Gugic hat in einer Diplomarbeit untersucht, welchen Einfluss das Schwein auf den Auenwald hat. Dazu gibt es eine Lehrbuchmeinung. Sie lautet: Verbiss und Wühltätigkeit führen zur Sukzession. Dichter Primärwald degeneriert über lichten Hutwald zur offenen Triftweide. So sei, sagen Vegetationskundler, nach der jüngsten Eiszeit Europas Kulturlandschaft entstanden. Als eine Art Park, in dem sich Baumgruppen, Buschzonen und Weideflächen ergänzen wie auf einem Gemälde von Thomas Gainsborough. Solche sekundären Ökosysteme sind besonders artenreich. Weshalb Naturschützer heute vor dem Problem stehen, was denn nun schützenswerter ist: Wald oder Kulturland? Und wie man gewachsenes Kulturland in den Zeiten der Agrarindustrie erhalten kann. Auch dazu gibt es eine Meinung: Extensive Viehwirtschaft wäre ideal. Also beispielsweise Hudewirtschaft, wie im Lonjsko Polje.

Vier Dinge hat Goran Gugic im Lonjsko Polje herausgefunden. Erstens: Schweine und Bäume vertragen sich. Es kommt bloß darauf an, wie viele Schweine und wie viele Bäume. Zweitens: welche Bäume. Drittens: wo und wie lange sie schon stehen. Und viertens: Nirgendwo findet sich eine Sukzession wie im Lehrbuch.

Entweder wächst im Lonjsko Polje Wald. Oder Weide. Scharf voneinander geschieden. Offenbar kümmert sich kein Schwein um Lehrbücher. Was in Büchern steht, muss sowieso nicht stimmen.

"Erfahrene Sauen gehen sogar in die Nebenflüsse, sodass beim Fressen nur noch der Schweinerücken aus dem Wasser ragt. Taucht der Kopf auf, ist das laute Knirschen, das beim Zerkauen großer Teichmuscheln (Anodonta spec.) entsteht, zu hören" (Martin Schneider-Jacoby/Hartmut Ern: Save-Auen, Vielfalt durch Überschwemmung).

Um Mais, wie gesagt, kümmert sich das Schwein, um Wurzeln und Engerlinge. Aber wir sind ja nicht wegen der Engerlinge hier. Sondern wegen der Muscheln. Im Wald sind keine Muscheln zu sehen. Etwas weiter, am Ufer eines Nebenflusses, keine Schweine. Es war, sagt Ivan Adamovic fast entschuldigend, ein ungewöhnlich trockener Sommer. Er deutet auf die Kerben, die sich in Kopfhöhe ringsum an den Bäumen finden. So hoch stand das Wasser beim letzten Mal, als Frost einsetzte und das Eis seine Spuren hinterließ. Beim letzten Mal habe er das Boot benutzen müssen, um seine Schweine einzusammeln.

Adamovic ruft in den Wald: "Hi! Ho!" Aus dem Unterholz bricht eine zweite Rotte. “Jato” heißt so ein Familienverbund. Bis zu zehn Jata könnte ein Hirte betreuen. Jedes Schwein erkennt er am Gang, jedes Schwein kennt den speziellen Ruf des Hirten. So steckt er sein Weidegebiet gegenüber anderen Hirten ab. Theoretisch. Praktisch gibt es außer Ivan Adamovic keinen Schweinehirten mehr im Lonjsko Polje. Dass es ihn und seine paar Turopoljer noch gibt, grenzt sowieso an ein Wunder.

Noch im Jahre 1958 sollen 58 000 Schweine im Turopolje gelebt haben. Sie waren begehrt, weil sie fett waren. Auch zur Salami wurden sie verarbeitet, Hauptabnehmer war die Großwursterei Gavrilovic in Petrinja. Dann änderten sich der Geschmack und die Zeiten. Im Stall hielt das Magerschwein Einzug. Mitte der siebziger Jahre trat im damaligen Jugoslawien außerdem ein neues Forstgesetz in Kraft. Die Waldmast wurde verboten. Geriet ein Schwein einem Jäger vor die Flinte, konnte er getrost darauf anlegen. Das hätte schon damals das Ende vom Lied sein können. Zumal das Entwicklungsprojekt “Save 2000” vorsah, die letzten Auen unterhalb von Zagreb einzudeichen. Das war ein alter Plan aus den siebziger Jahren, der erstaunlicherweise sowohl den Tod Titos als auch den Zusammenbruch Jugoslawiens überlebt hatte.

Anfang der neunziger Jahre dürften allenfalls noch 300 reinrassige Turopoljer Schweine frei herumgelaufen sein. Dann brach der Bürgerkrieg aus. Die Front zwischen Krajina-Serben und Kroaten verlief exakt durch das Lonjsko Polje.

Wer konnte, machte sich davon. In den Dörfern blieben die Alten zurück. Sowie eine letzte Herde, die mühsam durchgefüttert werden musste. Und damit wurde für das Turopoljer Schwein Kapitel drei aufgeschlagen.

Kapitel drei stammt aus dem Lehrbuch für Genetik und lautet: Jede Population, die unter eine kritische Größe sinkt, gerät in eine Art Flaschenhals. Kommt sie durch, dann nur unter Verlust. Gleichzeitig können dabei neue Rassen mit neuen Eigenschaften entstehen. Die Dinosaurier, um ein populäres Beispiel zu nehmen, sind seinerzeit nicht durch den Flaschenhals gekommen. Die Säugetiere schon. Und damit auch die Schweine.

Stammbaum des Turopoljer Schweins: Ordnung Paarhufer, Unterordnung Nichtwiederkäuer. Urahn Sus scrofa, das Wildschwein. Erstmals domestiziert als Siska-Schwein (ausgestorben). Gekreuzt 1777 unter Kaiserin Maria Theresia mit Zuchtebern der Leicester-Rasse. Nahe Verwandtschaft zum ungarischen Mangalitza und zum slowenischen Krskopoljska. Spätreif, genügsam, robust und dank Eichelmast trotzdem ein guter Specklieferant. Akut vom Aussterben bedroht.

Zeljko Mikacic vom kroatischen Viehzuchtamt in Sisak hat die letzten Turopoljer Schweine im Lonjsko Polje gezählt. Es sind zurzeit um die dreißig. Die Hälfte davon gehört Ivan Adamovic. "Hmmmhmm", summt Ivan Adamovic und krault seinem besten Zuchteber den Rücken. Baron heißt der Zuchteber. Die auserwählte Sau heißt Bella. Wenn sie demnächst ferkeln sollte, wäre das nur ein kleiner Schritt für die Evolution. Aber ein großer für das Turopoljer Schwein.

Lernt man die Akteure auf diese Weise kennen, wachsen sie einem direkt ans Herz. Außer Baron und Bella wären da noch Diggi, Draga, Gerti, Adam, Ivan und Mohar. Gewissermaßen Exilschweine. Denn auf dem Höhepunkt des Kriegs begann eine wohl einmalige Schweinerettungsaktion. Fernab in der Schweiz wurde ein Projekt namens SAVE (Safeguard for Acricultural Varieties in Europe) ins Leben gerufen. Drei Turopoljer Jungeber und drei Jungsauen wurden markiert, getauft und im Januar 1994 in den Zoo von Zagreb geschafft. Dort schied der Eber Ivan unter nicht näher geklärten Umständen dahin. Der Rest ging auf große Fahrt. Erst sollten die heimatlosen Schweine in die Schweiz. Die Schweiz kennt strenge Vorschriften. Gerade für Schweine. So kamen sie nach Wien, in den Tiergarten Schönbrunn. In Wien musste die Sau Gerti auf veterinärärztliche Anweisung eingeschläfert werden. Ein Zuchtpaar erhielt der Magister Punz, bei dem ging der Eber Mohar, wie es heißt, irgendwann an Schierlingsvergiftung ein. Sodass man sagen kann: Die genetische Basis des Rettungsprogramms war denkbar schmal. Weil die Natur es aber so eingerichtet hat, bekamen der Tiergarten Schönbrunn und der Magister Punz bald ganz andere Sorgen.

"Eber werden mit acht Monaten zum Sprung zugelassen, Sauen zum ersten Mal im Alter von 12 bis 14 Monaten gedeckt. Man spricht von vier bis sechs Ferkeln pro Wurf. Die Mortalität bis zum 28. Tag beträgt etwa zehn Prozent. Im Durchschnitt ferkeln die Sauen 1,5-mal pro Jahr" (aus: Schweinehut und Waldmast im Lonjsko Polje).

"Es hat auch ned passt in Wien, des san reine Weideschweine", sagt Klaus Hulatsch. Bei Klaus Hulatsch am Schwurwiesenweg in Mitterbach, Niederösterreich, steht eine Tuxer Kuh neben Tauernschecken und allerhand Geflügel auf dem Hof. Und seit drei Jahren auch Diggi, die mittlerweile älteste Turopoljer Sau Österreichs.

Diggi und dem Nachwuchs geht es gut, statt Maiskörnern reicht Klaus Hulatsch auch mal biodynamische Gerstenflocken oder Dinkelspelzen. Ein irrsinniger Futterverwerter sei das Turopoljer, da staunten sogar die Experten. Wo die übrigen Schweine hingekommen sind? Hulatsch holt eine Liste. Der Tiergarten Schönbrunn und der Magister Punz haben aufgegeben. Der Nachwuchs ging an ein knappes Dutzend Züchter, an einem Herdbuch wird gearbeitet, das Institut für Biologische Landwirtschaft und Biodiversität in Wels hat sich bereit erklärt, Sperma einzufrieren.

Natürlich, sagt Klaus Hulatsch, die genetische Grundlage. Andererseits: Millionen Goldhamster stammen von einem einzigen Pärchen ab, das im Jahre 1930 bei Aleppo in Syrien gefunden wurde. Klaus Hulatsch füttert Diggi. Diggi grunzt. Bei guter Pflege, schätzt man, können Schweine an die dreißigJahre alt werden. Diggi ist Jahrgang 93.

Eine Frage noch: Hinter seinem Haus hat der Ökofreund Hulatsch einen Teich angelegt, groß genug für ein Dutzend Schweine. Gehen sie hinein? Nein, sagt Hulatsch, das habe er noch nie beobachtet. Wollen sie nicht, oder können sie nicht? Wir verabschieden uns aus Niederösterreich, ohne dass die Frage wirklich beantwortet wäre. Landshut in Bayern heißt das nächste Ziel unserer Schweineexkursion.

"Im tierischen Bereich gab es interessante Neuzugänge: Zwölf Turopolje-Schweine fanden ihr neues Zuhause im Circus Fliegenpilz und zeigten dort, dass sie nicht nur gefräßig sind" (aus: Geschichte des Circus Fliegenpilz).

Mild gibt sich der Herbst in Landshut. Es rauscht die Isar, die Blätter fallen. Plakate kündigen überall an: Der Zirkus ist in der Stadt. Nicht irgendein Zirkus, sondern Circus Fliegenpilz, der "Circus unter Wasser". Die Werbung klingt viel versprechend: "300 000 Liter Wasser stürzen in die Manege!" Und mittendrin zwölf schwimmende Schweine?

"Wir hatten schon immer Schweine im Programm", erzählt die Direktorin Beatrix Hölscher, "Haustiere gehören zu unserem Image." Im Circus Fliegenpilz sind querbeet aufgetreten: Husumer Schweine, Sattelschweine, Bunte Bentheimer Schweine. Zuletzt mit einer Komiknummer, bei der sie Teppiche ausrollten und auf Kommando eine Rutsche bestiegen.

1998 wurden die bewährten Artistenschweine auf einen ruhigeren Posten im Tierpark Alfeld versetzt. Da traf es sich, dass der Schweizer Circus Knie mit zwölf Ferkeln aus der Schönbrunner Nachzucht eine reine Turopoljer-Nummer aufgebaut hatte. Man übernahm die Tiere. Und? Wie machen sie sich? Beatrix Hölscher blickt fragend zu ihrem Pressesprecher. "Soll ich ehrlich antworten?

“Na gut. Sagen wir mal: Sie sehen ein bisschen schlecht, hinter ihren Schlappohren."

Die polnische Kapelle spielt einen Tusch, der Vorhang geht auf, erst kommen drei Geißen auf einer Kutsche und dann, unter Hallo, die Schweine. Nummeriert von eins bis zwölf, immerhin in dieser Reihenfolge. Gruppieren sich zu Zweierreihen, sogar zu einer Drehung und dann, Höhepunkt der Nummer, springen, na ja, steigen sie einzeln über eine zugegeben nicht sehr hohe Hürde. Verdienter Applaus, und Turopolje eins bis zwölf traben in gemäßigtem Tempo zurück durch den roten Vorhang. Den Schweinen zur Ehre sei hinzugefügt: Viel mehr können Zebras auch nicht. Und ein Zwergflusspferd bekommt sogar dann schon Beifall, wenn es, geködert von Möhren, einmal bloß huldvoll im Kreis schreitet.

300 000 Liter Wasser rauschen dann auch noch, wie versprochen, aber erst nach der Pause. Seelöwen treten auf, Fontänen sprudeln, nur die Schweine haben Feierabend. Liegen faul vor ihrem Wagen, von Enthusiasmus keine Spur. Nebenan aalt sich Zwergflusspferd Elsbeth und kotet, wie es Flusspferdart ist, erst einmal ins vorgewärmte Schwimmbecken. Wir verlassen Landshut an der Isar, nicht ohne Zweifel, und reisen weiter nach dem Norden.

"Domestikation bezeichnet die Entstehung von Haustieren aus Wildtieren. Anstelle einer natürlichen tritt im Hausstand eine vom Menschen gesteuerte künstliche Selektion. Veränderungen betreffen zum Beispiel Körpergröße, Fortpflanzung und Biorhythmus, Nervensystem sowie Sinnesorgane und Verhalten" (Tierpark Warder: Huftiere).

In Schleswig-Holstein bei Rendsburg betreibt Jürgen Güntherschulze den Tierpark Warder. Früher hat er als Zoodirektor gearbeitet, heute steckt er alle Energie in die Zucht alter Haustierrassen. Zurzeit hält er 1600 Tiere. Hühner sind darunter, Schafe, Rinder und natürlich Schweine. Wie ein Turopoljer Schwein aussieht, wissen wir inzwischen. Aus Schönbrunn hat Güntherschulze ein Nachwuchspaar übernommen, eines vom Magister Punz. Damit betreibt er, so gut es geht, Zuchtmanagement.

Zum Thema Schweine wurde Güntherschulze promoviert. Also hat er dazu eine klare Meinung: "Wenn sich ein Wildschwein mit einem Hausschwein kreuzt, dann ist das für das Hausschwein eine Aufwertung, aber für das Wildschwein ein Abstieg." Das Turopoljer Schwein, sagt Jürgen Güntherschulze, sei noch nah dran am Wildschwein. Entsprechend ziemlich fit. Nicht so degeneriert wie die modernen Hybridschweine. Da sei eine entsetzliche Verarmung im Gang, kein Wunder, dass es bei der Massenhaltung in Großmästereien immer wieder zu Seuchen käme. Zum Problem der Inzucht sagt Jürgen Güntherschulze nur so viel: Wenn sich der Landwirtschaftsminister auf der Grünen Woche lobend vor einen Zuchteber hinstellt, dann kauft jeder Schweinebauer im Land dessen Sperma, und in null Komma nichts ist jede Sau in Deutschland mit diesem einen lächerlichen Eber verwandt. Normal sei das alles schon lange nicht mehr.

Dem können wir nur noch zustimmen. Eine allerletzte Frage: Wenn einer die Antwort weiß, dann Dr. Güntherschulze. Bitte, wie ist das jetzt mit den schwimmenden Schweinen? Ach, sagt Güntherschulze, das ist nichts Besonderes. Alle Schweine können schwimmen. Mehr oder weniger. Und nach Muscheln tauchen? Das Schwein, sagt Jürgen Güntherschulze, ist ein Allesfresser. Das frisst, was es kriegen kann.

Womit wenigstens diese Frage ein für alle Mal geklärt wäre.

© DIE ZEIT, Nr. 48/2000