Ende einer Affenliebe

Kann man einen Schimpansen wie ein menschliches Kind erziehen? Ein Psychologe hat es versucht.

Von Jörg Albrecht

Lucy kam 1964 zur Welt, als Tochter zweier Schimpansen, die mit einem Zirkus durch den Osten der Vereinigten Staaten von Amerika tingelten. Noch am Tag der Geburt reiste Jane Temerlin an, die Frau des Psychoanalytikers Maurice Temerlin. Um die frisch entbundene Schimpansenmutter abzulenken, verabreichte sie ihr eine Flasche Cola, die mit Phencyclidin versetzt war, einem starken Betäubungsmittel. Lucy wurde in einen Babykorb gepackt und an Bord einer Linienmaschine nach Oklahoma verfrachtet, wo ein spektakuläres Experiment auf sie wartete: Sie sollte der erste Menschenaffe werden, der von Anfang an wie ein Mensch erzogen wurde.

Was die Temerlins auf diese Idee gebracht hat, ist im Nachhinein nicht ganz klar; in seinen Erinnerungen (“Growing Up Human: A Chimpanzees Daughter in a Psychotherapists Family“) verweist Maurice Temerlin auf seinen Vorgänger Winthrop Kellogg. Der Verhaltensforscher hatte Anfang der dreißiger Jahre zusammen mit seinem zehn Monate alten Sohn David einen sieben Monate alten Schimpansen namens Gua aufgezogen und akkurat festgehalten, welche Fortschritte beide machten. Gua lernte rascher dazu, reagierte schneller auf mündliche Anweisungen und schien seinem menschlichen Zwillingsbruder anfangs überlegen.

Nur mit dem Spracherwerb wollte es nicht klappen. Kellogg brach den Versuch nach neun Monaten ab, als sich zeigte, dass auch sein Sohn David keine Anstalten machte, Wörter zu formen, sondern damit begann, sich nach Affenart auf allen vieren fortzubewegen, an Schuhen zu kauen, zu grunzen und Schimpansenlaute nachzuahmen.

Einen Schritt weiter ging nach dem Zweiten Weltkrieg das Ehepaar Keith und Catherine Hayes. Die beiden Psychologen arbeiteten am Yerkes Primate Research Center in Orlando, Florida, wo eine große Kolonie von Versuchstieren herangezüchtet worden war. Sechs Jahre lang trainierten sie das Schimpansenweibchen Viki, am Ende hatte es angeblich gelernt, die Worte „Mama“, „Papa“ und „cup“ zu artikulieren, was sich allerdings kaum überprüfen ließ, weil nur die Hayes imstande waren, die gutturalen Laute auseinander zu halten.

Vielleicht haben sich die Temerlins aber auch von einem populären Film inspirieren lassen: In „Bedtime for Bonzo“ aus dem Jahre 1951 spielt Ronald Reagan einen Psychologieprofessor, der beweisen will, dass über Gut und Böse die Erziehung und nicht die Herkunft entscheidet, wozu er einen Laborschimpansen adoptiert, was zu den erwartbaren Verwicklungen führt; Nörgler haben dem späteren Präsidenten Reagan vorgehalten, er habe sich in seiner Zeit als Schauspieler sogar von einem Affen an die Wand spielen lassen.

Die University of Oklahoma war Mitte der sechziger Jahre ein Ort, an dem ein festangestellter Professor am Department of Psychology im Großen und Ganzen tun und lassen konnte, was er wollte, vorausgesetzt, er war weder Kommunist noch homosexuell. Die Temerlins lebten auf dem Lande, weit genug weg vom Campus und von der nächsten größeren Stadt, um Lucy eine ungestörte Kindheit zu ermöglichen.

Es gab so viele Fragen zu klären. Würde Lucy ihre Adoptiveltern lieben? Würde sie angepasst oder rebellisch werden? Würde sie ein Bewusstsein ihrer selbst entwickeln? Welche Art von Sexualität? “Wir waren überglücklich an dem Tag, als Lucy zu uns kam. Wir ahnten ja nicht, was für Schwierigkeiten wir uns damit einhandelten“, gestand der Psychotherapeut elf Jahre später.

Es gab zwei Schlafzimmer in Temerlins Haus, eines für den damals acht Jahre alten Sohn David, eines für die Eltern und Lucy. Sie bekam die Flasche und lernte sofort, sie selbst zu halten. Mit drei Monaten kletterte sie aus der Wiege und begrüßte jeden, der vorbeikam, nach einem halben Jahr fand sie allein ihren Weg durchs Haus, ein Jahr nach ihrer Geburt saß sie bereits mit am Esstisch und aß manierlich mit Messer und Gabel. Man konnte sie mit ins Büro oder in den Supermarkt nehmen, und alle waren entzückt über das niedliche kleine Schimpansenmädchen, das so gern Röcke trug.

Doch die Idylle währte nur kurz. „Als Lucy drei Jahre alt wurde, wussten wir, dass wir ein Problem bekommen würden.“ Sie wurde langsam immer aggressiver, terrorisierte Temerlins geliebte Zuchtpapageien, schraubte Glühlampen aus der Fassung, drehte Wasserhähne auf, warf mit Büchern um sich und verwandelte die Wohnungseinrichtung in Sperrmüll. Alle Versuche, sie stubenrein zu bekommen, blieben vergeblich. Wer nicht zur Familie gehörte, musste jederzeit damit rechnen, gebissen zu werden. Selbst enge Freunde stellten ihre Besuche nach und nach ein.

Also sahen sich die Temerlins trotz akuter Finanznot gezwungen, einen sparsam möblierten Anbau aus Stahlbeton mit gesicherten Türen zu errichten, in dem Lucy ihre Bedürfnisse ausleben konnte. Es sollte auf keinen Fall ein Käfig werden, aber im Endeffekt war es einer.

Vielversprechender schienen die Versuche, Lucy das Sprechen beizubringen. Maurice Temerlin war ohnehin davon überzeugt, dass sie alles, was man ihr mündlich mitteilte, bis in die Nuancen hinein verstand. Er demonstrierte das gern anhand der Methode, mit der es ihm gelungen war, sie zu gesunder Mischkost zu überreden. Flaschenmilch hatte sie noch akzeptiert, aber schon feste Babynahrung behagte ihr nicht mehr, vor allem dann nicht, wenn sie Fleisch enthielt. Eine Zeitlang war sie nur noch bereit, Frühstücksflocken zu sich zu nehmen, und die auch nur, wenn sie unter einer Schicht von Himbeerpudding begraben waren.

Setzte man ihr eine ausgeklügelte Diät aus Hundefutter, gekochten Innereien und Möhrengemüse vor, spuckte sie das sofort wieder aus und begann zu schreien und sich die Haare auszureißen. „Da wurde die vorwurfsvolle Mutter in mir wach“, schreibt der an Sigmund Freud und Wilhelm Reich geschulte Psychiater Temerlin: „Lucy, sagte ich, um Himmels willen, denk an die hungernden Schimpansen in Afrika!“ Mit scheelem Blick und schlechtem Gewissen habe sie sofort begonnen, den Brei in sich hineinzuschaufeln.

Nun ist es eine Sache, die Gedanken eines Schimpansen zu lesen. Und eine andere, ihm beizubringen, sich verständlich zu äußern. Menschliche Sprache eignet sich dafür nicht, der Stimmapparat eines Menschenaffen kann sie einfach nicht hervorbringen. Doch an der University of Nevada in Reno hatte gerade ein junger Doktorand namens Roger Fouts damit begonnen, die Schimpansin Washoe in der Taubstummensprache zu unterrichten. Fouts nahm sich auch Lucy vor. Sie lernte die Gebärden für Ball, Banane, Flugzeug oder Telefon. Jeden Tag kamen neue hinzu, am Ende soll sie an die neunzig Zeichen beherrscht haben. Fouts hat ein besonders aufschlussreiches Gespräch festgehalten, nachdem Lucy wie üblich den Wohnzimmerteppich vollgekotet hatte:

Fouts: “Was das?”

Lucy: “Was das?”

Fouts: “Du weißt. Was das?”

Lucy: “Schmutzig schmutzig.”

Fouts: “Wessen schmutzig?”

Lucy: “Sue.” (Fouts Assistentin)

Fouts: “Es nicht Sue. Wessen das?”

Lucy: “Roger.”

Fouts: “Nein! Nicht mein. Wessen?”

Lucy: “Lucy schmutzig schmutzig. Entschuldigung.”

“Was das?“ wurde Lucys Lieblingsausdruck. Die Geste für „Warum?“ verwendete sie nie.

Wer zu dieser Zeit das Haus der Temerlins betrat, wurde Zeuge eines ungewöhnlichen Familienlebens. Hatte Lucy Durst, ging sie in die Küche, öffnete den Schrank, nahm einen Teebeutel heraus, setzte Wasser zum Kochen auf und füllte die Tasse. Dann setzte sie sich aufs Sofa und blätterte in Zeitschriften wie Time oder Newsweek, am liebsten hatte sie den National Geographic. Bald entdeckte sie auch härteren Stoff wie Bourbon und Gin. Weil die Getränkerechnung dadurch deutlich in die Höhe schnellte, versuchten die Temerlins, ihr billigeres Zeug wie Obstwein unterzujubeln - ohne großen Erfolg.

Wenig später kam eine neue Vorliebe hinzu. „Eines Nachmittags saßen Jane und ich im Wohnzimmer und beobachteten, wie Lucy die Stube verließ“, berichtet Temerlin. „Sie ging in die Küche, öffnete einen Schrank, nahm ein Glas heraus, holte eine Flasche Gin hervor und schenkte sich drei Finger hoch ein. Damit kam sie zurück in die Stube, setzte sich auf die Couch und nippte. Doch mit einem Mal schien ihr ein Gedanke zu kommen. Sie erhob sich wieder, ging zum Besenschrank, holte den Staubsauger hervor, steckte ihn in die Steckdose, schaltete ihn ein und begann, sich mit dem Saugrohr zu befriedigen.“

Masturbation wurde für Lucy zum kreativen Hobby. Mindestens einmal täglich ging sie ihm mit wechselnden Techniken nach. Temerlin beobachtete fasziniert den Unterschied zwischen klitoraler und vaginaler Stimulation - ein alter Diskussionsgegenstand unter Sexualwissenschaftlern, seit Freud die ausschließliche Fähigkeit zu klitoralen Orgasmen zum Zeichen weiblicher Unreife erklärt hatte.

Mit acht Jahren wurde Lucy vollends geschlechtsreif. Das machte die Dinge noch komplizierter. Maurice Temerlin hatte eigentlich erwartet, dass er derjenige sei, auf den sich ihr sexuelles Interesse richten würde. Entsprechende Kopulationsversuche hatte er in Gedanken bereits durchgespielt, im Interesse der Wissenschaft war er zu allem bereit. Das Gegenteil war der Fall: Seine Adoptivtochter sprang stattdessen wildfremden Personen auf den Schoß und versuchte, sich an ihnen zu reiben. Für den Psychoanalytiker lag die Sache auf der Hand: Ödipus hin oder her - das Inzesttabu war stärker.

Lucy hatte bis dahin noch nie einen anderen Schimpansen gesehen. Einmal war sie mit im Autokino gewesen, wo der Film „Planet der Affen“ lief. Doch das hatte sie vollkommen kaltgelassen. Wie weit ging ihre Fixierung auf Menschen? Maurice Temerlin machte die Probe aufs Exempel und erstand eine Ausgabe der Zeitschrift Playgirl. Beim Anblick der nackten Männer war Lucy hingerissen und befriedigte sich voller Wonne über dem obligaten Poster in der Heftmitte.

Lucy war mittlerweile fast zehn Jahre alt, ein neunzig Pfund schwerer Energiebrocken, der es aufgrund seiner Muskelmasse leicht mit fünf erwachsenen Männern aufnehmen konnte. Selbst Maurice Temerlin dämmerte, dass sie ihn bei aller Affenliebe aus einer fehlgeleiteten Laune heraus glatt in Stücke reißen konnte. Der Wissenschaftsjournalist Charles Siebert hat viel über Affen recherchiert, die als Haustiere gehalten wurden. „Es gab und gibt immer wieder Leute, die unbedingt einen Schimpansen aufziehen wollen. Aber irgendwann werden die Tiere zu stark und zu eigensinnig. Die Temerlins hielten länger durch als die meisten.“

Das Problem, vor dem Lucy und ihre Adoptiveltern standen, beschäftigt Primatenforscher und Tierschützer bis heute. Zehntausende von Schimpansen sind als Versuchstiere gehalten worden, etliche haben dafür mit dem Leben bezahlt, wie zum Beispiel jene „Astrochimps“, die in den Anfängen der Raumfahrt auf Raketenschlitten geschnallt wurden, um die Auswirkungen extremer Beschleunigung auf den Organismus zu studieren. Oder wie jene Kandidaten, die im Dienste des medizinischen Fortschritts geopfert wurden. Aber noch viel mehr von ihnen haben überlebt.

Sinnvoll eingesetzt werden können Schimpansen nur bis zu einem gewissen Alter - als Darsteller im Film beispielsweise werden sie spätestens mit sechs oder sieben Jahren ausgemustert, weil sie dann nur noch schlecht kooperieren. Andererseits können Schimpansen unter menschlicher Obhut ein Alter von fünfzig Jahren erreichen. Dann stellt sich die Frage: wohin mit ihnen?

Nicht nur die Temerlins suchten damals nach einer Antwort. Aber bei ihnen lag der Fall noch spezieller. Ein Altersheim für Schimpansen kam für Lucy nicht in Frage, nur ein einziges Mal hatte sie in ihrem Leben Kontakt zu einem Artgenossen gehabt und war dabei zu Tode erschrocken. In einen Zoo würde sie aus demselben Grunde nicht passen. Am Ende seiner Erinnerungen kapituliert Maurice Temerlin: „Was wird mit Lucy geschehen? Ich weiß es nicht. Immerhin bin ich mit der romantischen Vorstellung aufgewachsen, dass Bücher ein glückliches Ende brauchen. Oder ein tragisches. Ich hasse Bücher, die gar keines haben. Bücher wie dieses hier.“

Roger Fout, der Lucy die Taubstummensprache beibrachte, lehrt heute an der Central Washington University. Er hat sich sein gesamtes Forscherleben lang mit Schimpansen befasst, die in Gefangenschaft gehalten wurden. Manche von ihnen wuchsen isoliert in Käfigen auf und entwickelten schwere Neurosen. Andere wurde ähnlich liebevoll wie Lucy aufgepäppelt, mit ähnlich fragwürdigen Ergebnissen. „Egal wie die Versuchsanordnung war - wir haben es stets vermasselt“, sagt Roger Fout. „Wir können Schimpansen außerhalb ihrer natürlichen Heimat einfach keine artgerechten Lebensbedingungen bieten.“

Maurice Temerlin lässt sich am Ende seines Experimentes darüber aus, was Lucy alles gelernt hat. Sie kann aus einem riesigen Bund von Schlüsseln exakt den herausangeln, der zu einer bestimmten Tür passt. Sie kann die Tür auch mit einem Schraubenzieher aus den Angeln heben. Sie kann sich Schuhe anziehen, mit Streichhölzern hantieren, mit Buntstiften Kreise zeichnen, sich die Haare kämmen und die Zähne putzen. Temerlin setzte sie sogar als Ko-Therapeutin in Gruppensitzungen ein, wo sie die Teilnehmer je nach Lust und Laune unfreundlich knuffte oder liebevoll umarmte. Er habe ihr viele Neurosen erspart, indem er sie jenseits von geschlechterspezifischen Normen aufzog, glaubte der Psychiater. Der Frage, für wen oder was Lucy sich eigentlich hielt, ging Maurice Temerlin beflissen aus dem Weg.

Um das heimische Chaos einigermaßen zu bändigen, haben die Temerlins immer wieder versucht, einen Babysitter für Lucy zu finden. Keiner hielt es lange aus. Bis auf Janis Carter. Sie studiert 1977 an der University of Oklahoma Psychologie im Aufbaustudium und kommt zu einem Zeitpunkt ins Haus, an dem die Schimpansin offenbar nach weiteren Bezugspersonen sucht. Die beiden freunden sich an, soweit das überhaupt möglich ist zwischen Affe und Mensch. Die Temerlins sind gerade von einer längeren Reise zurückgekommen. Nirgends haben sie ein passendes neues Zuhause gefunden. Bleibt nur noch eines: Lucy soll zurück in die Freiheit.

Zweiundzwanzig Stunden dauert der Flug von Oklahoma City nach Dakar. In Senegal herrscht Regenzeit, es ist unerträglich schwül. Die Temerlins mieten ein Auto, überqueren die Grenze nach Gambia und laden Janis Carter und Lucy in einem Naturreservat ab. Dort stehen eine Reihe von Käfigen, die für ähnliche Problemfälle wie Lucy reserviert sind. Das Ehepaar Temerlin verabschiedet sich nach einiger Zeit, Janis Carter soll noch dreieinhalb Wochen länger bleiben, um Lucys Weg in die Unabhängigkeit zu begleiten.

Daraus werden acht Jahre. Lucy fallen die Haare aus, sie leidet unter Infektionen und nimmt kaum noch Nahrung zu sich. Eine Gruppe weiterer Schimpansen aus der Gefangenschaft kommt hinzu. Sie zeigen dieselben Symptome. Janis Carter siedelt die Gruppe auf eine kleine, dicht mit Regenwald bestandene Insel im Gambia um. Sie nimmt an, dass sich die Tiere dort, kaum aus dem Käfig befreit, voller Freude in die Bäume schwingen werden, um endlich ein normales Schimpansenleben zu führen.

Die Affen denken nicht daran und weichen Carter nicht von der Seite. Die Pflegerin führt sie geduldig auf der Insel herum, zeigt ihnen Früchte und Blätter, von denen sie sich ernähren könnten - die Schimpansen beharren auf dem mitgebrachten Proviant. Sie wollen sich weiterhin die Zähne putzen und Tee vom Gaskocher haben.

Nun nimmt die Situation bizarre Züge an: Janis Carter sperrt sich selbst in einen Käfig, um den Kontakt zu beenden. Die Schimpansen wollen unbedingt mit hinein. Nachdem ihnen das verweigert wird, campiert die gesamte Horde auf dem Dach. Es ist nicht gedeckt, es regnet hinein, und immer wenn die Schimpansen sich erschrecken, lassen sie Kot und Urin fallen. Sie erschrecken sich oft, keiner von ihnen hat je ein Urwaldgeräusch gehört. So geht das monatelang, eine einzige Tortur.

Erst allmählich verliert ein Schimpanse nach dem anderen das Interesse. Nach einem Jahr sind sie alle fort. Bis auf Lucy. Es entbrennt ein Machtkampf, ausgetragen in der Gebärdensprache. Lucy signalisiert „Komm her!“, Carter antwortet: „Geh!“ Und so weiter und so fort, bis zur gegenseitigen Erschöpfung.

Jeder andere hätte an dieser Stelle aufgegeben. Aber Janis Carter ist wild entschlossen, die Sache zu einem guten Ende zu bringen. Sie würgt wilde Feigen und Blätter und Ameisen herunter, um Lucy zu zeigen, wie das geht. Die verhungert anscheinend lieber, als den Kram anzurühren. Wieder gehen Monate ins Land, eines Tages sind die beiden so geschwächt, dass sie im Wald zusammenbrechen. Als Janis Carter wieder aufwacht, hält Lucy ihr ein Blatt hin. Von dem Moment an ist der Bann gebrochen. Die Schimpansin hat endlich beschlossen, es auf eigene Faust zu versuchen.

Janis Carter bleibt weitere sechs Jahre auf der Insel und beobachtet die Fortschritte der ausgewilderten Affen. Lucy adoptiert ein Schimpansenjunges, es stirbt an einer Mageninfektion. 1985 wird Carter von einem dominanten Männchen der Gruppe attackiert. Sie verlässt die Insel und bezieht in der Nähe der Hauptstadt Banjul eine Hütte.

Ein weiteres Jahr lang beobachtet sie von einem Boot aus, ob mit den Schimpansen alles in Ordnung ist. Dann geht sie noch einmal an Land und breitet auf einer Lichtung Lucys ehemalige Schätze aus: einen Spiegel, Buntstifte, ein Buch. Die Horde rückt an, Lucy kommt näher, nimmt den Spiegel in die Hand und betrachtet sich darin. Dann umarmt sie Carter. Die bricht in Tränen aus. Lucy klopft ihr sanft auf den Rücken, „als wollte sie sagen, jetzt ist alles okay“, erinnert sich Janis. Die übrigen Affen machen kehrt und verschwinden wieder im Wald. Lucy steht auf und folgt. „Sie hat sich nicht mal mehr nach mir umgedreht.“

Über das Ende der Geschichte gehen die Darstellungen auseinander. Lucy wird Mitte September 1987 zum letzten Mal lebend gesehen. Ein paar Wochen später findet man ihre Überreste. Janis Carter, die bis heute in Gambia lebt, berichtet mehrfach, sie habe Lucy anhand ihrer Zahnlücke identifiziert. Wilderer hätten sie vermutlich erschossen, gehäutet und Kopf und Füße abgehackt, um sie als Trophäen zu verkaufen. Stella Brewer, Gründerin des gambischen „Chimpanzee Rehabilitation Trust“, bezweifelt das. Einer ihrer Mitarbeiter habe nur ein paar verstreute, bereits von Gras überwucherte anonyme Knochen gefunden, die von Wildschweinen und Hyänen angenagt waren.

In Brewers Augen war das Auswilderungsprogramm von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Aus heutiger Sicht kann man sagen: Das ganze Projekt „Lucy“ war eine einzige Katastrophe.

Der New Yorker Sender WNYC hat im Rahmen seines Programms „Radiolab“ eine halbstündige Sendung über Lucys Schicksal produziert. Ein Transkript erschien im Mai 2012 in NZZ Folio.

© Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 4. August.2012