Und Opa ist an allem schuld

Von Jörg Albrecht

Epigenetik heißt das neue Zauberwort. Der Lebensstil soll darüber entscheiden, wie unsere Enkel zurechtkommen. Ist das wirklich wahr?

Wer auf der Europastraße 10 unterwegs zum Polarkreis ist, erreicht ihn auf 66,3 Grad nördlicher Breite kurz hinter der schwedischen Gemeinde Överkalix. Vielleicht begegnet ihm einer dieser neunzig Tonnen schweren Gigaliner, mit denen die Baumstämme aus den umliegenden Wäldern abtransportiert werden. Ansonsten ist nicht viel zu bestaunen: In dieser Gegend kommt im Schnitt gerade mal ein Einwohner auf den Quadratkilometer. Es herrscht rauhes, subarktisches Klima. Im Winter schafft es die Sonne kaum über den Horizont, das Thermometer fällt mitunter auf minus vierzig Grad.

Ende der neunziger Jahre hatte der schwedische Regisseur Anders Banke die Idee, in Överkalix einen Horrorfilm zu drehen. "Frostbite" war der Titel. Darin treibt ein Genetiker sein Unwesen, der sich als einziger Überlebender eines Zugs der SS-Panzerdivision "Wiking" erweist; die übrigen Mitglieder wurden auf dem Rückzug vor der Roten Armee von Vampiren ausgesaugt. Nachdem er sich in seine schwedische Heimat durchgeschlagen hat, versucht der Wissenschaftler, ein Heilmittel gegen Vampirismus zu finden. Doch dann triumphiert erneut der Nazigeist, und er macht sich an die Züchtung einer überlegenen menschlichen Rasse. Wie zu erwarten, gerät die Sache außer Kontrolle: Am Ende des Films schwärmt eine Horde anarchistischer Teenagervampire aus, um die Plage über ganz Schweden zu verbreiten.

Durchgeknallte Forscher machen sich immer gut. Aber es gab zu Ausgang des zwanzigsten Jahrhunderts auch ein reales wissenschaftliches Interesse an Överkalix. Zur selben Zeit, als Anders Banke sich mit den ersten Entwürfen seines Drehbuchs beschäftigte, wühlten sich zwei Sozialmediziner von der Universität Umeå durch die Unterlagen des Gemeinderegisters. Lars Olov Bygren und Gunnar Kaati wollten der Frage nachgehen, ob es eventuell einen Zusammenhang gibt zwischen der Ernährung im Kindesalter und dem Risiko, früher als gewöhnlich zu sterben.

Solche Studien wurden und werden immer wieder durchgeführt. Sie haben den Nachteil, dass man jahrzehntelange Beobachtungen anstellen muss, um überhaupt ein Ergebnis zu bekommen. Im besten Fall findet man eine Korrelation: Wer viel Fisch isst, kann sich Hoffnungen machen, länger zu leben. Ob das am Fisch liegt, weiß man deshalb noch lange nicht, es kann auch sein, dass die Fischesser zufällig weniger geraucht und mehr Sport getrieben haben, ein höheres Einkommen hatten oder häufiger zum Arzt gegangen sind. Vielleicht ist ihre Vorliebe für Fisch nur Ausdruck einer generellen Anlage zur Langlebigkeit. Hinzu kommt, dass derartige Befunde meist nur knapp über der Schwelle zur Signifikanz liegen. Wenn Fischesser im Durchschnitt bloß sechs Monate älter werden als Fischverächter, kann man das statistisch vergessen.

Bygren und Kaati hatten allerdings einen besonderen Datensatz vor sich. Er reichte an die zweihundert Jahre zurück und umfasste alle Geburten und Sterbefälle und in vielen Fällen auch die Todesursache. Överkalix zählte bis in jüngere Zeit zu den abgelegensten Gemeinden im Königreich Schweden, die Menschen mussten mit dem auskommen, was die kurzen Sommer hergaben. Die Ernten waren häufig miserabel. Aus Aufzeichnungen ging hervor, dass es innerhalb eines Jahrhunderts mehr als ein Dutzend mal zu Totalausfällen kam. Allerdings gab es auch Perioden, in denen mehr geerntet wurde als sonst. Über drei Generationen hinweg konnte man so verfolgen, wie sich die Ernährungslage auf die Gesundheit von den Großvätern bis hin zu den Enkeln ausgewirkt hatte.

Das Ergebnis fiel anders aus, als man erwartet hätte. Man hätte meinen können, dass es für die Kinder der Jahrgänge 1890 oder 1905 keine Rolle mehr spielte, ob und wann ihre Großeltern Hunger litten. Oder wann diese vergleichsweise in Saus und Braus gelebt hatten. Das war auch weitgehend der Fall. Jedenfalls dann, wenn es sich um die Großmütter und Großväter mütterlicherseits handelte. Auch die Ernährung der Großmütter in der väterlichen Linie hatte keinerlei Einfluss auf das Wohlergehen ihrer Enkel. Nach den üblichen Gesetzen der Vererbung ist damit sowieso nicht zu rechnen. Vererbt wird nur das Genom und nicht die Erfahrung. Erworbene Merkmale zählen nicht bei der Fortpflanzung, heißt es. Ein Mann, der seinen Arm an der Kreissäge einbüßt, bekommt trotzdem keine einarmigen Kindern. Um dies ein für allemal zu demonstrieren, schnitt der Biologe August Weismann vor mehr als hundert Jahren je einem Dutzend weißer Mäuse die Schwänze ab, über 22 Generationen hinweg, ohne dass sich das in irgendeiner Weise bei den Nachkommen bemerkbar machte.

Auch die Enkel von Överkalix hätten keine körperliche Erinnerung mehr an die Lebensumstände ihrer Großeltern zeigen dürfen. Aber in bestimmten Fällen zeigten sie die eben doch. Nämlich dann, wenn der Vater ihres Vaters exakt im Lebensalter zwischen neun und zwölf Jahren reichlich zu essen gehabt hatte. Dann aber waren die Enkel nicht etwa gesünder, sondern trugen ein vierfach erhöhtes Risiko, an den Folgen von Diabetes zu sterben. Hatte er dagegen in der späten Kindheit hungern müssen, waren die Enkel auf der sicheren Seite. Ein ähnliches Muster ergab sich, wenn man Väter und Söhne verglich und das Risiko betrachtete, an einer Herz-Kreislauf-Erkrankung zu sterben: War der Erzeuger als Heranwachsender gut versorgt, musste sein Sprössling sich Sorgen machen, war er es nicht, war sein Sohn, statistisch, gesehen aus dem Schneider.

Eine Weile ging dahin, bis Bygren und Kaati ihre widersprüchlichen Befunde im European Journal of Human Genetics veröffentlichen konnten (http://tinyurl.com/l4gccd/). Es war abzusehen, dass es Stirnrunzeln geben würde. Denn die beiden hatten etwas gefunden, was der Theorie nach nicht existieren konnte: "Eine generationenübergreifende Prägung von Ernährungsgewohnheiten auf das Erbgut, welche sich nur in der männlichen Keimbahn auswirkt." Das erinnerte doch sehr an einen fundamentalen Streit, der historisch längst entschieden schien: den zwischen Lamarckisten und Darwinisten. Die Rolle des Helden war dabei eindeutig Darwin zugefallen, die Rolle des Versagers Lamarck. Einordnen lässt sich das alles nicht, ohne kurz zu rekapitulieren, worum es ursprünglich ging.

Der Chevalier Jean-Baptiste de Lamarck wurde 1744 als elftes Kind einer wenig begüterten Familie des französischen Provinzadels in Bazentin-le-Petit, einem kleinen Ort in der Picardie, geboren. Wie sein Zeitgenosse Charles Darwin sollte er Geistlicher werden. Er geht stattdessen zur Armee und studiert anschließend Medizin. Einen Namen macht er sich als Kenner der französischen Pflanzenwelt, hat allerdings Mühe, damit seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Erst mit 49 Jahren wird er zum Professor an das Pariser Naturkundemuseum berufen, wo er ein System der wirbellosen Tiere entwickelt. Lamarck publiziert fleißig zu den unterschiedlichsten Themen der Physik, Chemie, Geologie, Meteorologie und Physiologie, findet jedoch wenig Resonanz. Die letzten zehn Jahre seines Lebens verbringt er in Blindheit und Verbitterung und wird 1829 in einem Armengrab beigesetzt.

Geblieben ist von allen seinen Schriften nur das alberne Bild von der Giraffe, die sich ausdauernd nach Blättern streckt, bis auch ihre Nachkommen immer längere Hälse bekommen. Dabei erwähnte Lamarck das Beispiel nur ganz am Rande. Die Entwicklung körperlicher Merkmale betreffend stellte er zwei Gesetze auf. Das erste lautet: "Bei jedem Tiere stärkt der häufigere Gebrauch eines Organs dasselbe, vergrößert und kräftigt es; der konstante Nichtgebrauch eines Organs macht dasselbe schwächer und lässt es endlich verschwinden." Das könnte als Motto in jedem Fitness-Studio hängen. Lamarcks zweites Gesetz jedoch sorgt heute noch für Empörung: "Alles, was die Individuen durch den Einfluss des vorherrschenden Gebrauchs oder konstanten Nichtgebrauchs eines Organs erwerben oder verlieren, wird auf die Nachkommen vererbt."

Dass man durch eifriges Üben und einen vorbildlichen Lebensstil nicht nur die eigenen Nachkommen, sondern eine ganze Nation vervollkommnen könne, war bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts keine abwegige Vorstellung. Der deutsche Pädagoge Friedrich Jahn beispielsweise, der als Turnvater in die Geschichte einging, und der französische Baron Pierre de Coubertin, der die Olympischen Spiele der Neuzeit ersann, waren felsenfest davon überzeugt. Genauso verbreitet war allerdings die Überzeugung, dass es einzig und allein Darwins strenges Prinzip von Zucht und Auslese sei, das die Tüchtigsten überleben ließ.

Es war nicht nur ein akademischer Streit. Er eskalierte rasch zu einem erbitterten Kampf zweier Weltanschauungen. Darwins Evolutionslehre und die Mendelschen Vererbungsregeln wurden ins Feld geführt, um die Überlegenheit der weißen Rasse zu begründen. Lamarck wiederum diente als Kronzeuge dafür, dass man die gesamte Menschheit veredeln könne, wenn man nur die entsprechenden Lebensumstände schafft. Die politischen Folgen waren in beiden Fällen katastrophal.

Die unselige Rassentheorie führte unter Adolf Hitler zum Bau von Konzentrationslagern, in denen die eugenisch unerwünschten Elemente zu Millionen ins Gas geschickt wurden. In der Sowjetunion verhungerten ungezählte Menschen allein deshalb, weil man unter Stalins Herrschaft der Illusion anhing, man könne Weizen durch "Jarowisation" (von russisch jarowój, Sommer) so erziehen, dass er problemlos auch in Sibirien reift.

Darwin gegen Lamarck - das war in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ein Glaubenskrieg. Die Beweislage war auf beiden Seiten noch recht dünn. Zu den Stars, die sich Lamarck verschrieben hatten, zählte der Österreicher Paul Kammerer. Er war ein begabter Experimentator und ein talentierter Komponist, hing der Freimaurerei und dem Sozialismus an und galt als begnadeter Vortragskünstler.

Kammerer verkehrte in den vornehmen Wiener Kreisen, wurde freilich auch als Halbjude angefeindet und stand im zweifelhaften Ruf eines Frauenhelden (unter anderem stellte er Gustav Mahlers Witwe Alma nach, die sich darüber beschwerte, dass er jedesmal, wenn sie sich von einem Sessel erhob, daran niederkniete und ihn ausgiebig beschnupperte). Er arbeitete in den zwanziger Jahren als Assistent an der Biologischen Versuchsanstalt im Wiener Prater, einer Einrichtung, die seinerzeit zu den modernsten ihrer Art gehörte.

Sein berühmtestes Experiment führte er an der Gemeinen Geburtshelferkröte Alytes obstetricans durch. Dieser Froschlurch lebt und paart sich normalerweise an Land. Kammerer setzte die Tiere hohen Temperaturen aus und bot ihnen gleichzeitig die Möglichkeit, in kühleres Aquarienwasser auszuweichen. Das taten sie auch und kopulierten dort fröhlich weiter. Bei anderen Amphibien, die ihr gesamtes Leben im Wasser verbringen, entwickeln die Männchen eigens zu diesem Zweck Brunftschwielen, mit denen sie sich besser am Weibchen festhalten können. Kammerer wollte nun beobachtet haben, dass schon die erste Nachkommengeneration der ins Wasser gezwungenen Kröten es vorzog, dort zu bleiben, und zwar selbst dann, wenn die Temperaturen an Land wieder normal blieben. Aber nicht nur diese Angewohnheit schien sich zu vererben, sondern auch die Anlage zur Entwicklung von Schwielen an den Vorderbeinen, die sich von der vierten Generation an zeigte. Was sollte das anderes sein als der experimentelle Nachweis, dass sich erworbene Eigenschaften vererben?

Kammerer präsentierte seine Ergebnisse 1923 auf einer Vortragsreise, die ihn nach Cambridge und London und an die amerikanischen Eliteuniversitäten Yale und Johns Hopkins führte. Insbesondere die Presse überschlug sich vor Begeisterung, die New York Times widmete ihm fünf Artikel und erkannte in ihm "den nächsten Darwin". Aber es gab Zweifel. Zurück in Wien, bekam Kammerer Besuch von dem Herpetologen Gladwyn Kingsley Noble, der sich Fotografien und Präparate von den angeblichen Brunftschwielen zeigen ließ. Mit einem Aufsatz in Nature trat Noble dann eine Lawine los: Kammerer habe den Befund schnöde gefälscht, indem er den Kröten schwarze Chinatusche ins Bein gespritzt habe. Wenige Wochen später, am Vormittag des 22. September 1926, schoss sich Paul Kammerer in Puchberg bei Wien eine Kugel in den Kopf.

Sein Selbstmord wurde als Schuldeingeständnis gesehen: "Kammerer ist auch als Biologe tot, kein ernsthafter Forscher wird sich jemals mehr auf seine Untersuchungen berufen", hieß es. Das war der endgültige Todesstoß für den Lamarckismus. Triumphieren sollte die "synthetische Evolutionstheorie", die in den Folgejahren von Biologen wie Theodosius Dobzhansky, Ernst Mayr und Julian Huxley formuliert wurde. Wissenschaftshistoriker haben den Fall zu den Akten gelegt. Paul Kammerer ist ihnen nur noch eine Fußnote wert. Und Lamarck gilt auf ganzer Linie als erledigt. Wenigstens ist ein Mondkrater nach ihm benannt. Und im Wiener Bezirk Döbling gibt es immerhin eine kleine Kammerergasse.

Doch manche Ideen sind einfach nicht totzukriegen.

Der Entwicklungsbiologe Conrad Hal Waddington beispielsweise war zwar mit dem Dogma, das sich allmählich herausgebildet hatte, wohlvertraut: dass es die Gene und nur die Gene sind, welche der Evolution als Rohmaterial dienen. Schließlich hatte er eine Zeitlang in Kalifornien in Thomas Hunt Morgans Fliegenlabor gearbeitet, wo Gene wie am Fließband kartiert wurden. Aber Waddington war ebenfalls ein vielseitig interessierter Mann; Er verfasste Gedichte, war fasziniert von Bildhauerei und Architektur und schrieb im Laufe seines Lebens nicht weniger als 18 Bücher. Darin bekannte er sich ausdrücklich zu Darwin und seinen Nachfolgern (und nebenbei zur "profunden Philosophie" des Karl Marx). Dennoch störte ihn etwas an der Sache. Es schien ihm alles zu mechanisch, zu simpel, er glaubte nicht, "dass die rein statistische Selektion, die nichts anderes macht, als zufällige Mutationen auszusortieren, selbst für den überzeugtesten Genetiker völlig befriedigend sein kann".

Waddington prägte 1942 einen Begriff, der erst viel später Karriere machen sollte: "Epigenetik" Die griechische Vorsilbe "epi" (nebenbei, hinzu, darüber hinaus) sollte ausdrücken, dass bei der Entwicklung und Fortpflanzung von Lebewesen noch andere Faktoren im Spiel sind als lediglich die Erbanlagen. Waddington stellte sich vor, dass ein äußerer Stimulus dazu führen könne, dass die vorgegebene Bahn eines Individuums nach der Befruchtung in unterschiedliche Richtungen verläuft, ähnlich wie Kugeln, die von einer Höhe hinab in verschiedene Kanäle rollen. Damit häufte er freilich nur eine Abstraktion auf die andere. Seinen Zeitgenossen war das viel zu vage, und seine Kollegen vom Fach marschierten ohnehin auf ein anderes Ziel zu. Ein Jahr nach Waddingtons Veröffentlichung stand fest, dass die DNA der chemische Träger der Erbinformation ist. Und an diesem Molekül haben sich dann erst einmal alle festgebissen.

Touristen, die nach Edinburgh kommen, wird vom Reiseportal Tripadvisor ans Herz gelegt, das Schottische Nationalmuseum zu besuchen. Dort wird allerdings gerade umgebaut, und so ist eines der berühmtesten Exponate zurzeit nicht zu sehen. Es handelt sich um Dolly, das Schaf, und um das von ihr zur Welt gebrachte Lamm Bonny. Beide blicken so treuherzig, wie nur Schafe blicken können. Dabei sind sie der lebende - oder besser gesagt: ausgestopfte - Beleg dafür, dass nackte DNA allein nicht reicht, um Vererbung zu erklären.

Dolly war 1996 am schottischen Roslin Institute geboren worden, als erstes geklontes Säugetier überhaupt. Klonen ist im Grunde eine uralte Kulturtechnik - das Pfropfen der Obstbäume und das Veredeln der Rosen gehören dazu. Auch bei Fröschen war es schon gelungen. Nur an Säugetieren hatten sich die Forscher die Zähne ausgebissen; ein 1981 vorgestellter, angeblich geglückter Versuch an Mäusen erwies sich im Nachhinein als Betrug.

Spätestens seitdem weiß man, worin die Schwierigkeit besteht. Normale Körperzellen können mit dem kompletten Satz des Genoms gar nichts anfangen, sie müssen große Teile davon lahmlegen, je nachdem, welche Aufgaben sie zu erledigen haben. Eine Nervenzelle soll nicht plötzlich auf die Idee kommen, Muskelzellen hervorzubringen, eine Leberzelle soll ihren Teil zum Alkoholabbau beitragen und nicht zur Bildung roter Blutkörperchen.

Der einfachste Weg, ein Gen stummzuschalten, besteht für die Zelle darin, ihm Methylgruppen anzuhängen. Dabei handelt es sich um denkbar einfache organische Verbindungen, die lediglich aus einem Kohlenstoffatom und drei Wasserstoffatomen bestehen. Sie binden immer dort, wo in der DNA die Buchstaben C (für Cytosin) und G (Guanin) aufeinanderfolgen. Der genetische Code bleibt dabei strikt erhalten, nur seine Aussagekraft wird verändert. Die Methylierung ist nicht das einzige, aber offenbar das häufigste und am leichtesten zu verstehende epigenetische Werkzeug. Vereinfacht gesagt, kann man sagen: Je stärker ein Gen methyliert ist, desto gedrosselter ist seine Aktivität.

In jedem Gewebe des Körpers bildet sich auf diese Weise im Laufe der Embryonalentwicklung ein typisches Methylierungsmuster heraus. Diese Markierung bleibt bei der Zellteilung erhalten, so dass später aus einer Hautzelle jedesmal auch wieder eine Hautzelle hervorgeht. Kommt es dabei zu Irrtümern, kann das böse Folgen haben. Fehlerhafte Methylierungen tragen, wie man heute annimmt, maßgeblich zur Entstehung von Krebs bei.

Ohne Epigenom, könnte man sagen, ist das Genom nicht viel wert. Es gibt allerdings zwei Momente im Leben, wo der Organismus es unbedingt loswerden muss. Reifen Ei- und Samenzellen heran, muss das alte Methylprogramm gelöscht werden. Denn die Nachkommen sollen schließlich das gesamte Repertoire erben, das in der unmarkierten DNA steckt. Sie hätten ja nichts davon, wenn sie nur aus Haut oder Nerven bestünden. Weil das so wichtig ist, folgt kurz nach der Befruchtung ein weiterer Schritt, bei dem erneut Methylgruppen entfernt werden.

Allerdings nicht ganz so radikal, dass jede Erinnerung an die Herkunft des Erbmaterials ausgelöscht würde. Einige geschlechtsspezifische Markierungen bleiben erhalten. Zumindest ist das bei Säugetieren (mit Ausnahme der Kloakentiere) und auch unter Blütenpflanzen gang und gäbe. Der Sinn dieser genomischen Prägung, auf Englisch "imprinting" genannt, ist noch nicht restlos verstanden. Aber sie könnte erklären, warum es mit dem Klonen von Säugetieren lange Zeit nicht recht vorangehen wollte.

Bis heute ist das kein besonders effektives Geschäft. Die Väter des Klonschafs Dolly mussten mehr als zweihundert Zellkerne in entkernte Eizellen verpflanzen, bis es klappte. Sie stammten aus dem Euter eines Spendertieres, hatten also keine De-Methylierung hinter sich, wie sie von der Natur vorgesehen ist. Die kann bei einem solchen Kerntransfer erst im frühen Klonembryo stattfinden. Da ist es dann häufig zu spät, die Markierungen korrekt zu löschen. Die Erfolgsrate beim Säugetier-Klonen hat sich jedenfalls seit den Tagen Dollys nicht wesentlich erhöht.

Vor einem ähnlichen Problem stehen die Stammzellforscher. So raffiniert die Cocktails auch sind, die sie ihren Zellen verabreichen, so wenig können sie sicher sein, dass daraus eines Tages wie geplant gesunde Gewebe oder Organe heranwachsen. Wie wichtig ein korrektes Imprinting ist, zeigt sich immer dann, wenn es aus irgendwelchen Gründen schiefgeht. Beim Menschen treten Wachstumsstörungen auf, wie man sie auch an vielen geklonten Tieren beobachtet. Fehlbildungen und Tumore können die Folge sein wie beim Beckwith-Wiedemann-Syndrom, geistige Behinderung und Hyperaktivität wie beim Angelman- oder Stoffwechselstörungen wie beim Prader-Willi-Syndrom.

Als Anfang des Jahrtausends die erstaunliche Kunde aus dem schwedischen Överkalix dringt, liegt die Vermutung natürlich nahe, dass auch hier ein Imprinting-Mechanismus am Werke war. Denn genau in jenem Alter zwischen neun und zwölf Jahren, in dem die Großväter entweder geschlemmt oder gehungert hatten, bilden sich die Vorläufer der menschlichen Samenzellen. Bereits in ihnen wird das Erbgut reprogrammiert, außerdem werden die Anteile des Vaters und der Mutter neu gemischt. Ob dem Besitzer der Chromosomen dabei der Magen knurrt oder nicht, sollte eigentlich keine Rolle spielen. Und falls wider Erwarten doch, sollte es wenigstens nicht nur die Männer treffen.

Schlagzeilen wie "Opa ist an allem schuld" machen die Runde. Exakt beweisen lässt sich das nicht, denn die Överkalixer der Jahrgänge 1890 und 1905 und erst recht ihre Väter und Großväter waren zum Zeitpunkt der Studie bereits dahingeschieden, molekulare Analysen nicht mehr möglich. Es brauchte härtere Fakten, um den Nachweis zu führen, dass epigenetische Einflüsse nicht nur das Individuum betreffen, sondern auch an die folgenden Generationen weitergereicht werden. Bei Frauen müsste man sogar bis zur Urenkelin warten, um zu sehen, ob die Sache vererbt wird. Denn bei ihnen entwickeln sich die Vorläufer der Eizellen schon, wenn sie noch im Bauch der Mutter leben. Eine Frau beispielsweise, die während der Schwangerschaft raucht, setzt gleich drei Generationen dem Zigarettenqualm aus: sich selbst, den weiblichen Embryo und dessen heranreifende Keimzellen. Alle drei sind in dieser Hinsicht denselben Schadstoffen ausgesetzt, so dass man nicht sagen kann, wo der Einfluss der Umwelt aufhört und die Vererbung beginnt. Erst in der vierten, dann aber hoffentlich rauchfrei aufgewachsenen Generation würde sich zeigen, ob der ungesunde Lebensstil auch Eingang in die Keimbahn gefunden hat.

Zum Glück gibt es Labormäuse. Durch jahrelange Inzucht kann man erreichen, dass sie sich genetisch weitgehend angleichen. Zumindest auf der Ebene der DNA. Man kann Labormäuse obendrein unter konstanten Umweltbedingungen halten, wodurch die meisten Störfaktoren wegfallen. Man kann ihnen zunächst dasselbe Futter vorsetzen, um einen Teil von ihnen anschließend zu Studienzwecken auf eine abgewandelte Kost zu setzen. Epigenetische Effekte der Ernährung sollten, wenn es sie denn gibt, bei einer derartigen Versuchsanordnung stärker hervortreten.

Labormäuse sind seit dem 19. Jahrhundert in aberwitzig vielen Varianten gezüchtet worden. Die meisten stammen von den sogenannten Farbmäusen (Mus musculus domestica) ab, der domestizierten Zuchtform der Hausmaus. Verantwortlich für deren Fellfarbe ist das Agouti-Gen, benannt nach einer mittelamerikanischen Nagetiergattung, von dem eine Reihe von Mutationen existieren, die in Kombination unterschiedliche gefärbte Tiere zwischen hellbraun und pechschwarz hervorbringen. Eine dieser Agouti-Mäuse, im Fachjargon "viable yellow" genannt, ist gelblich und zeigt gleichzeitig physiologische Defekte. Sie wird stark übergewichtig und neigt zu Diabetes und Krebs.

Für den amerikanischen Krebsforscher und Toxikologen Randy Jirtle von der Duke University in Durham waren diese Mäuse ein ideales Versuchsobjekt. Er wollte an ihnen testen, wie sich eine bestimmte Diät auf ihr Erscheinungsbild und ihre körperliche Verfassung auswirken würde. Jirtle mischte trächtigen Weibchen Folsäure, Vitamin B12, Cholin und Betain ins Standardfutter, alles Substanzen, die am Methylstoffwechsel beteiligt sind. Prompt kamen schlanke braune Junge zur Welt, die kein erhöhtes Diabetes- oder Krebsrisiko mehr besaßen. Ihre DNA war immer noch dieselbe. Doch um das Agouti-Gen herum hatten sich dank der Diät haufenweise Methylgruppen angelagert.

Randy Jirtle veröffentlichte seine Ergebnisse im August 2003 in Molecular and Cellular Biology. Es wurde eine der meistzitierten Arbeiten auf diesem Fachgebiet überhaupt. Ein Foto daraus, das eine bedauernswert fette gelbe Maus neben einer ranken braunen zeigte, wanderte durch alle Massenmedien. Als Beweis dafür, dass sich der Ernährungsstil vererbt. Doch genau das hatten Jirtle und sein Doktorand Robert Waterland eben nicht gezeigt. Sie hätten, wie Waterland später schrieb, nur einen "transgenerationalen" Effekt gefunden.

Die Animositäten in dieser Angelegenheit reichen tief, der Streit wird um feinste Begrifflichkeiten geführt. Der Biologe und Sachbuchautor Bernhard Kegel hat dieses sowie alle vorangegangenen und folgenden einschlägigen Experimente mit gelben Agouti-Mäusen ausführlich in einem Buch beschrieben ("Epigenetik", Dumont 2009). Nach der Lektüre schwirrt selbst dem genetisch halbwegs beschlagenen Leser der Kopf. Aber so viel bleibt doch hängen: Die beteiligten Fachleute sind sich ganz und gar nicht darüber einig, wie sie das Phänomen bewerten sollen. Es geht dabei um knifflige methodische Fragen. Die einen werfen den anderen vor, dass sie von vornherein mit Mäusen gearbeitet hätten, die in diesem speziellen Fall überhaupt nichts zu vererben hätten. Das Gegenargument ist auch nicht viel besser: Die Mäuse hätten etwas geerbt, was sie ohnehin schon besessen hätten. Kegel kommt jedenfalls zu dem Schluss, dass man anhand dieses immer wieder angeführten Paradebeispiels noch keine Revolution ausrufen könne, die endlich den Staub aus dem veralteten Mainstream der Genetik hinwegfegen würde.

Dafür ist die Epigenetik mittlerweile im Mainstream der Gesellschaft angekommen. Es werden Epigenetik-Wellness und Epigenetik-Beauty angepriesen beziehungsweise Epigenetik-Food, mit dem man "lecker und leicht durch die Festtage kommt", wie es unlängst zu Weihnachten in der Zeitschrift Glamour hieß. Es gibt Ratgeber wie "Epigenetik trifft uns alle - geerbte Probleme lösen". Noch fehlt der Hinweis, dass es eventuell von Nutzen sein könnte, hin und wieder ein Schlückchen Methylalkohol zu sich zu nehmen, um seiner DNA etwas Gutes zu tun. Aber angesichts der allgemeinen Trivialisierung des Themas ist das nur noch eine Frage der Zeit.

Es gibt andererseits Firmen wie die Epigenomics AG, die auf der Grundlage vorläufiger Erkenntnisse mehr oder weniger erfolgreich Früherkennungstests für Darm-, Prostata- und Lungenkrebs entwickeln. Etliche Pharmakologen glauben, der nächste Volltreffer im Kampf gegen den Krebs sei nur mit epigenetischen Mitteln zu erzielen. Es ist auch nicht so, dass nicht eifrig geforscht wird. Es gab in Deutschland bis 2008 ein Schwerpunktprogramm der Deutschen Forschungsgemeinschaft, es existieren ein Max-Planck-Institut für Immunbiologie und Epigenetik in Freiburg und ein nationales Epigenom-Programm, das als Beitrag zum International Human Epigenome Consortium gedacht ist. Nur von spektakulären Fortschritten hat man in letzter Zeit nicht mehr viel gehört.

Wenn von Epigenetik die Rede ist, müssen zum Beweis immer noch eine Handvoll kanonischer Studien herhalten. Zu denen zählen auch die Rattenversuche, die der Neurobiologe Michael Meaney und sein Team an der McGill University in Montreal unternahmen. Dort beschäftigt man sich schon seit den fünfziger Jahren mit dem Zusammenhang zwischen Stress und Krankheit.

Zum Standardrepertoire der Forscher gehören sogenannte "licking and grooming"-Experimente. Wie liebevoll eine Rattenmutter mit ihrem Nachwuchs umgeht, lässt sich leicht messen, indem man die Zeit stoppt, während deren sie ihn leckt und krault. Das ist besonders in den ersten drei Lebenswochen wichtig, weil es den Neugeborenen Sicherheit und Geborgenheit gibt. Es gibt allerdings auch "non licking mothers", also Rabenmütter, die gänzlich aus der Art schlagen und sich einen feuchten Dreck um ihre Brut kümmern. Die entwickelt sich dann folgerichtig zu aggressiven, ängstlichen, reizbaren und hypernervösen Vertretern. Schiebt man sie freilich nach der Geburt einer fürsorglichen Adoptivmutter unter, wachsen sie wieder zu friedlichen und neugierigen Wesen heran. An den Genen muss es also nicht liegen.

Meaney und seine Mitarbeiter fanden die biochemische Ursache. Die vernachlässigten Ratten schütten unter Stress mehr Cortisol aus, als notwendig wäre. Diese Reaktion beruht auf einer ganzen Kaskade von Signalen, die im Hypothalamus des Gehirns ausgelöst beginnt. Dort regulieren Glucocorticoid-Rezeptoren, wie viel Stresshormon gebildet werden soll. Sie stehen ihrerseits unter der Kontrolle eines bestimmten Gens. Und dieses Gen, man ahnt es bereits, wird je nach dem Grad seiner Methylierung heruntergedimmt oder auf Vollgas gebracht. Die Forscher mussten dem verstörten Nachwuchs nur die Aminosäure Methionin verabreichen, die den abnormen Zustand auf Normalmaß brachte, und schon wurden aus den Stresskandidaten wieder neugierige und selbstbewusste Ratten.

Auch Meaney und seine Kollegen hatten Mühe, ihre Ergebnisse an den Mann zu bringen. Die beiden führenden Publikationsorgane, Science und Nature, lehnten eine Veröffentlichung rundherum ab. 2004 erschien die Arbeit dann im weniger prestigeträchtigen Nature Neuroscience. In der Folge gab es viel Beifall. Allerdings weniger von Genetikern oder Molekularbiologen, sondern hauptsächlich von Psychologen, Psychiatern und Verhaltensforschern. Die hatten nun endlich etwas Substantielles, an dem sie sich festhalten konnten.

Die Kollegen von der molekularen Front mäkeln bis heute an solchen und ähnlichen Studien herum (http://tinyurl.com/gs6kuwv). Epigenetische Phänomene sind seitdem in Zusammenhang mit Selbstmord, Depression, häuslicher Gewalt und traumatischen Erlebnissen gebracht worden. Aber verglichen mit dem, was die klassische Molekulargenetik in mehr als fünfzig Jahren über die Mechanismen der Genregulation herausgefunden hat, steckt die Epigenetik noch tief in den Kinderschuhen. Weil es aber wie immer um die Verteilung größerer Mengen von Forschungsgeldern geht, wird zwischen beiden Lagern mit harten Bandagen gekämpft.

Einen Eindruck davon konnte man kürzlich gewinnen, wenn man die heftigen Reaktionen verfolgte, die ein Artikel hervorrief, der Anfang Mai im Magazin The New Yorker erschienen war (http://tinyurl.com/zn9buq8/). Als Autor zeichnete der an der Columbia University tätige Krebsforscher Siddhartha Mukherjee. Für ein Buch über sein engeres Fachgebiet, auf Deutsch unter dem Titel "Der König aller Krankheiten" bei Dumont erschienen, war er 2011 immerhin mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet worden. Nun hatte er sich auf fremderes Terrain gewagt und vorab einen Auszug seines neuen Werks zum Druck angeboten. Mit "The Gene: An intimate History" rollt Siddharta Mukherjee die Geschichte der Vererbungslehre auf, angefangen bei Darwin über Mendel, Watson und Crick bis zu all den anderen viel besungenen oder weniger beachteten Helden der Genetik. Mukherjee beherrscht einen lockeren und originellen Stil; Mendel, so berichtet er beispielsweise, habe in seinen Anfangsjahren durchaus mit dem Gedanken gespielt, Mäuse zu kreuzen, aber das wäre selbst im vergleichsweise aufgeklärten Augustinerorden als reichlich frivol betrachtet worden. Also habe sich der Mönch auf die Erbsen gestürzt, in früher Vorwegnahme des John-Lennon-Mottos: "Give peas a chance." Das alles verknüpft Mukherjee mit persönlichen Beobachtungen und Erlebnissen.

So schildert er in einem Kapitel den Werdegang seiner bengalischen Mutter Tulu und den ihrer eineiigen Zwillingsschwester Bulu, die sich im Laufe ihres turbulenten Lebens immer unähnlicher geworden seien und doch irgendwie gleich geblieben. Und er setzt das in Verbindung zu jenen epigenetischen Forschungen, die sich mit dem Markieren und Verpacken der DNA beschäftigen.

Allein der Inhalt dieses Kapitels ist im New Yorker erschienen. Aber das hat gereicht, einen veritablen Shitstorm hervorzubringen (http://tinyurl.com/zbrarqc/). Der Evolutionsbiologe Jerry Coyne von der University of Chicago öffnete seinen Blog, und es ergoss sich eine Lawine von vernichtenden Stellungnahmen, angeführt von zwei Nobelpreisträgern und gefolgt von Dutzenden hochrenommierten Experten. Mukherjees Artikel sei oberflächlich und irreführend, nur schwer erträglich und richte in der Öffentlichkeit einen massiven Schaden an, was das Verständnis von Genetik und Epigenetik angehe. Der Autor habe offenbar gar nicht verstanden, was Genregulation überhaupt sei, schrieb Coyne.

Da kam der ganze Unmut der Gen-Autoritäten zutage. Sie fühlen sich schon seit längerem missverstanden. Auch und gerade von der Wissenschaftsberichterstattung in den Medien. Und sie haben nicht mal so unrecht.

Zum Thema Epigenetik ist in den vergangenen zehn Jahren viel, aber nicht immer viel Qualifiziertes geschrieben worden. Denn Methylgruppen, auf die sich das Thema so wunderbar reduzieren lässt, sind nun wirklich nicht die einzigen Akteure, die über die Steuerung von Genen in der lebenden Zelle bestimmen. Einer der Kommentatoren in Coynes Blog legte allen, die sich in Zukunft dazu äußern wollen, erst einmal die Lektüre des Standardwerks "Molecular Biology of The Cell" ans Herz. Das rund 1400 starke Buch ist in der sechsten Auflage erschienen und gilt als Bibel der Molekularbiologie. Aber selbst dieser wissenschaftliche Schinken hinkt der aktuellen Entwicklung hinterher. Seit der Entzifferung des menschlichen Genoms stößt man auf immer neue, immer verschlungenere Wege im Erbgut. Zwischendurch sah es fast schon so aus, als ob sich unser traditionelles Wissen über die Vererbungsvorgänge komplett in Luft auflösen würde. Nach und nach wird sich vielleicht ein tieferes Verständnis einstellen.Es wird jedenfalls daran gearbeitet.

Die Faszination, die von der Epigenetik ausgeht, hat ihre Gründe. Sie liefert ein jedermann verständliches Erklärungsmuster und lädt zu Spekulationen über Herkunft und Schicksal des Menschen ein. Siddhartha Mukherjee hat nicht von ungefähr das Beispiel seiner aus einem einzigen Ei zur Welt gekommenen Mutter und Tante gewählt. Die eine zog ins chaotische Kalkutta, um sich dort mehr schlecht als recht durchzuschlagen, die andere nach Delhi, wo die Familie zu Wohlstand kam und schließlich in die Vereinigten Staaten von Amerika auswanderte. Die eine brach sich den Knöchel, die andere zog sich eine schwere Infektion zu, die eine reiste kreuz und quer durch die Welt, die andere blieb daheim in Indien. Die Zufälle, die das Leben so mit sich bringt, trafen mal die und mal die. Und als Reaktion darauf, schreibt Mukherjee, "wurden Gene an- und abgeschaltet, nach und nach epigenetische Markierungen darüber geschichtet, bis das Genom am Ende seine eigenen Narben und Schwielen trug". So erklärt er sich die Unterschiede zwischen den Zwillingen, die doch vom Erbgut her per definitionem identisch sind.

Reine Wissenschaftspoesie ist das nicht. Der Mediziner Manel Esteller, Krebsforscher an der Universität Barcelona und Chefredakteur der Zeitschrift Epigenetics, hat vor Jahren das Methylierungsmuster im Erbgut von vierzig eineiigen Zwillingspaaren im Alter zwischen drei und 74 Jahren analysiert. Je älter die Zwillinge waren und je deutlicher sich ihr Lebensstil unterschied, desto größer waren die Abweichungen.

Das steht in scharfem Kontrast zu den Ergebnissen einer berühmt-berüchtigten Studie, die in den siebziger Jahren an der University of Minnesota in Minneapolis durchgeführt worden ist. Daran hatten knapp fünf Dutzend eineiige Zwillinge teilgenommen, die nach der Geburt zur Adoption freigegeben und in unterschiedlichen Familien aufgewachsen waren. Doch anders als Mukherjees Mutter und Tante hatten sie sich offenbar überhaupt nicht auseinanderentwickelt. Die Ähnlichkeiten waren im Gegenteil nahezu gespenstisch. Bei einem Paar war der eine Bruder in einer jüdischen Familie in Trinidad groß geworden und der andere in einer katholischen Familie im Deutschland der späten dreißiger Jahre, wo er sich der Hitlerjugend anschloss. Doch als beide sich angeblich zum ersten Mal in Minneapolis wiedertrafen, trugen sie beide blaue Hemden mit Schulterklappen und hatten dieselbe Angewohnheit, die Toilette erst zu spülen, bevor sie sie benutzten. Andere berichteten, sie würden von denselben Albträumen geplagt, in denen sie an Angelhaken oder anderen metallischen Gegenständen erstickten. Zwei Zwillingsbrüder litten nicht nur unter denselben Migräneattacken, sondern hatten es unabhängig voneinander sogar geschafft, ihren Hund Toy zu nennen, eine Frau mit dem Vornamen Linda zu heiraten und ihre jeweiligen Söhne James Allan zu taufen (wobei der eine wenigstens minimal davon abwich, indem er im Mittelnamen ein "l" wegließ).

Einen molekulargenetischen Mechanismus, der diese Absonderlichkeiten erklären könnte, hat bislang niemand gefunden. Die Wette ist nicht allzu gewagt, dass das auch nie der Fall sein wird. Vielmehr liegt der Verdacht nahe, dass die "monozygotic twins reared apart", wie die Minnesota-Twins in der spärlichen Fachliteratur zu diesem Fall heißen, eben doch voneinander wussten und sich, wie Zwillinge das gern tun, mit voller Absicht gegenseitig kopiert hatten.

Dass die Anlagen eines Menschen durch die Umwelt beeinflusst werden, ist eine derartige Binsenweisheit, dass die ewige Debatte um diesen leidigen Punkt nur noch schal wirkt. Die Kontroverse um die Epigenetik ist etwas anderes. Denn wenn es individuell erworbene Prägungen im Erbgut gibt, die bei schädlicher Wirkung auch wieder rückgängig gemacht werden können, öffnet das tatsächlich neue Wege der Therapie. Bleibt die Frage, ob solche Spuren vergänglich sind oder in künftigen Generationen noch zu sehen sein werden.

Hier kommt, wie die Ironie es so will, noch einmal Paul Kammerer ins Spiel. Zu seiner Verteidung sind postum einige Anstrengungen unternommen worden. Sein Mentor, der Zoologe Hans Leo Przibram, schwor Stein und Bein, die Fotos von den Brunftschwielen seien echt. Der Schriftsteller Arthur Koestler recherchierte ausgiebig, befragte Zeugen und sichtete vorhandene Unterlagen. Sein 1971 erschienenes Sachbuch "The Case of the Midwife Toad", auf Deutsch "Der Krötenküsser", rollt die Affäre noch einmal von vorne auf. Kammerers Experimente, seine Geburtshelferkröten und auch die davon angefertigten Präparate und Fotos seien mehrfach von anerkannten Fachleuten begutachtet und nicht beanstandet worden. Auch der Evolutionstheoretiker Stephen Jay Gould äußerte sich zu dem Fall. Er blieb zwar mehr als skeptisch, was die lamarckistischen Schlussfolgerungen angeht, räumte aber ein, dass man auch in der Natur gelegentlich beobachtet habe, dass Geburtshelferkröten Brunftschwielen entwickeln; es müsse sich um eine atavistische Anlage handeln, die unter bestimmten Umständen wieder zum Vorschein käme.

Die gründlichste und ausführlichste Betrachtung hat vor sieben Jahren der chilenische Biologe Alexander Vargas von der Universität Santiago mit einem Aufsatz im Journal of Experimental Zoology angestellt (http://tinyurl.com/zg7rxla). Er schildert darin die Kreuzungsversuche, die Kammerer zur Untermauerung seiner These unternommen hatte, das eigenartige Zahlenverhältnis, das dabei herauskam und von den Mendelschen Regeln abwich, und er liefert eine theoretische Interpretation, die auf der Basis bekannter epigenetischer Effekte erklären könnte, was Kammerer beobachtet haben wollte.

Vargas schlägt vor, die Versuche mit der Geburtshelferkröte unter sorgfältig kontrollierten Bedingungen zu wiederholen, was in der Tat nie geschehen ist. Dazu muss man wissen, dass die Lurche in Gefangenschaft locker acht Jahre alt werden können und sich höchstens alle Vierteljahre fortpflanzen, man also schon einen langen Atem mitbringen muss, wenn man mit ihnen experimentiert. Genetiker bevorzugen im Allgemeinen Versuchstiere mit einer deutlich kürzeren Lebensspanne.

Der Vorwurf, Kammerer habe mit Tusche nachgeholfen, ist dennoch nicht aus der Welt geräumt. Wer in jüngerer Zeit die biologische Forschung und den Rummel um embryonale Stammzellen verfolgt hat, wird sich erinnern, dass derartige Manipulationen auch heute noch Usus sind. Nur nimmt man keine Tusche mehr, sondern bessert mit Photoshop nach.

Wir wissen heute sehr viel mehr über die Vererbung als Paul Kammerer und seine Zeitgenossen. Aber je mehr wir wissen, desto verworrener wird das Gesamtbild. Und es wird immer wieder Ausnahmen von der Regel geben. Das zeigt nicht nur das eingangs erwähnte Beispiel der Vampire von Överkalix. Nach allgemeiner Ansicht vermehren sich die Blutsauger durch Ansteckung, möglicherweise steckt ein Virus dahinter. Wie der durchgeknallte Genetiker es im Film geschafft hat, Teenagervampire hervorzubringen, bleibt sein Geheimnis. Er hat es mit ins Grab genommen.