Hermann Löns

Von Jörg Albrecht

Verehrt, umstritten, vergessen: Die drei Karrieren eines Heimatdichters

Spurlos wollte er verschwinden von dieser Erde. Wie totes Getier verderben. „Auf meinem Grab soll stehen kein Stein, kein Hügel soll dort geschüttet sein.“ Nach allem, was man weiß, hat er das geschafft. Auch wenn es auf den ersten Blick nicht so aussieht.

Wer sich auf die Suche nach Löns macht, landet automatisch in der Lüneburger Heide. Im Tietlinger Wacholderhain, rund um einen tonnenschweren Findling mit der gemeißelten Inschrift „Hier ruht Hermann Löns“, versammeln sich jedes Jahr Ende August die treuesten Freunde, die dem Dichter geblieben sind. In der Luft liegt der Duft des Heidekrauts, ein Männerchor intoniert: Es steh`n drei Birken auf der Heide, valleri und juppheida. Den Festvortrag hat in vor ein paar Jahren der Landrat a. D. und Kapitän zur See der Reserve Dr. Dr. Jens Kullick gehalten. Thema: Hermann Löns und der Krieg. Ein weites Feld. Wie in jeder Hinsicht der ganze Mann.

Über Löns sind an die hundert Bücher, mehr als doppelt so viele Aufsätze und ein gutes Dutzend Dissertationen geschrieben worden. Löns und seine Zeit, sein Wirken, sein Charakter, Löns als Erzähler, Jäger, Gesellschaftskritiker, Naturkundler und Malakologe. Die letzte größere Arbeit, 1994 erschienen, widmete sich dem „Mythos Löns“. Auch sonst hat der längst Verblichene Spuren hinterlassen. Eine Zählung auf dem Gebiet der alten Bundesrepublik ergab: 91 Hermann Löns-Gedenkstätten, sechshundert nach ihm benannte Straßen und Wege, achtzig Plätze, 124 Schulen, ein Fußballstadion (in Paderborn) sowie ein Naturschutzgebiet.

Das alles steht in merkwürdigem Kontrast zum vollständigen Verschiss, in den der Sänger der norddeutschen Tiefebene mittlerweile geraten ist. Vor allem Literaturfreunde nähern sich dem Löns’schen Werk nur noch mit der Kneifzange; „Provinzprosa, für die der Ausdruck Kitsch ein Euphemismus ist“ lautet ein Verdikt des Germanisten Hans-Albrecht Koch. Andererseits, schrieb ausgerechnet die taz, sei er eben auch Kapitalismuskritiker und ein erstklassiger Journalist gewesen. War er das?

Er war vieles: Kind der Gründerzeit, Revoluzzer, Alkoholiker, Umweltpionier, Nationalchauvinist. Und phasenweise vollkommen irre. In den Journalismus ist hineingestolpert wie so viele, als verkrachte Existenz mit dem umso dringenderen Wunsch, gefällige Aufmerksamkeit zu erregen. Als er die hatte, war es nicht genug, er musste auch noch Dichter werden: „Und die Bracken und die bellen und die Büchse und die knallt“. Hunderte von Komponisten haben sich an Löns-Liedern versucht; heute verstaubt das alles in den Archiven, der letzte halbwegs prominente Löns-Sänger, von dem man vernommen hat, war der 2005 verstorbene Fiede Kay aus Breklum in Nordfriesland.

An Beispiel Löns kann man den deutschen Weg ins zwanzigste Jahrhundert wie unter dem Brennglas studieren. Hermann Fritz Moritz Löns kam am 29. August 1866 in Kulm an der Weichsel zur Welt. Von dreizehn Geschwistern starben fünf früh. Die Familie zog nach Münster in Westfalen, wo der Vater eine Stelle als Gymnasiallehrer annahm. Löns nahm es großzügig mit der Geographie: „Kaum waren zwei Jahre vergangen, da war ich Niedersachse.“ Später ergänzt er das durch das Bekenntnis, er sei „Teutone hoch vier“. Die Mitschüler mieden den mageren, großgewachsenen Jungen mit seinen tiefliegenden, scheuen Augen. Löns kränkelte häufig und überstand knapp eine Typhuserkrankung. Das Abitur schaffte er im zweiten Anlauf. Der Vater bestand darauf, dass er Medizin studierte. Schon das war eine Schnapsidee: Löns wäre weder als Arzt noch in sonst einem geregelten Beruf glücklich geworden. Genau genommen wurde er das nie.

Im April 1887 geht er nach Greifswald und lässt sich immatrikulieren. Er wird Mitglied der schlagenden Verbindung Cimbria und berichtet, „dass ich am 21. Januar einen hiesigen Pharmazeuten unberührt abgestochen habe.“ Erste lyrische Versuche zeugen von sonstigen Interessen, die nur peripher mit dem Studium der Heilkunst zu tun haben: „So bringt aus den letzten Toast, frohen Rausch und kein Erwachen, ewige Narkose, Prost!“ Auch auf erotischem Gebiet ist er unterwegs: „Ich hör’s an deinem Herzschlag, dass dich dein Kleid bedrängt, entdämme deines Busens Wellen, die du so grausam eingezwängt“, reimt er an irgendeine Marie dahin. Löns leiht sich von einem Paukbruder Geld und kann es nicht rechtzeitig zurückzahlen. Der Ausschluss aus der Verbindung erfolgt umgehend „cum infamia“, also unehrenhaft. Löns wechselt für kurze Zeit nach Göttingen, wo er sich nicht mal mehr einschreibt, sondern ersatzweise einer Zechrunde, dem „Klub der Bewusstlosen“ beitritt. Dann hängt er noch zwei Jahre in Münster dran, besucht Vorlesungen und Übungen in Zoologie. 1889 wird er wegen Ruhestörung, Beleidigung und Widerstand gegen die Staatsgewalt zu fünf Tagen Gefängnis verurteilt. Im Suff hat er nachts die Gaslaternen ausgedreht und bei der Festnahme randaliert. „Der Junge zeigt ein so gewissenloses Verhalten, dass wir daran zweifeln müssen, ob er noch seinen Verstand hat“, schreibt der Vater.

Ein Jahr später gibt Löns das Studium endgültig dran. Im Nachhinein behauptet er, er habe seine Doktorarbeit fix und fertig gehabt, aber auf dem Bahnhof verloren. Zu Hause fliegt er raus und kommt bei einem Freund unter. In desolater Stimmung, die ihn fortan begleiten wird: „Das Leben ist zum Brechen fad, pikanter ist der Tod.“ Trost findet er, als er Elisabet Erbeck kennenlernt, zwei Jahre älter und geschieden, Verkäuferin in einem Konditorgeschäft. Im Mai 1890 feiern die beiden Verlobung, bei einem Spaziergang eröffnet er ihr, dass er nun gedenkt, sein Brot im Zeitungsfach zu verdienen. Der Alkohol, diese ewige Geißel des Journalismus, hat ihn von Anfang an im Griff. Die 1891 bei der Pfälzischen Presse angetretene Stelle eines Hilfsredakteurs wird ihm nach fünf Monaten gekündigt, wegen Unpünktlichkeit und „mehr als guter“ Trinkerei, wie sein wohlwollender Biograph Wilhelm Deimann schrieb. Zweite Station ist die Preußische Tribüne in Gera, ein sozialdemokratisches Blatt. „Wenn du hungerst, wenn die Not, dir mit Schmutz und Schande droht, alter Freund, sei unverdrossen, denk daran, du hast Genossen“, fließt es Löns solidarisch aus Feder. Wiederum ist er den Job nach drei Wochen los. „Geistvoll, aber zum Trunke neigend und wenig ausdauernd in der Arbeit“ steht in seinem Zeugnis.

Den Mut des unerschrockenen Reporters legt er immerhin an den Tag: 1892 ist Löns für zwölf Tage in Hamburg, um von der Choleraepidemie zu berichten. Ob und wo darüber Artikel erschienen sind, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Zwei Jahre später folgt die Heirat mit Elisabet Erbeck. Beim Hannoverschen Anzeiger, gegründet durch August Madsack, wird Löns freier Mitarbeiter, für fünf Pfennig die Zeile. Er reißt sich erstmals zusammen, wird fest angestellt und zeichnet für den Lokalteil verantwortlich. Unter dem Pseudonym „Fritz von der Leine“ verfasst er Glossen über Bier- und Tabakpreise, Steuererhöhungen, Straßenbahnbau. In einem Brief an seinen Jugendfreund Max Apffelstaedt bringt er seine Gesinnungslage auf den Punkt: „H. Löns, Lyriker, in der Jugend Anarchist, später Reaktionär, Nietzscheaner, endlich Verteidiger des Satzes: omnia schnuppe“. Er geht jetzt des öfteren auf die Jagd, um die städtische Lackiertheit zu vergessen, die ihm „allen Murr und Purr aus den Knochen saugt.“ Auf dem Kröpcke allerdings lässt er sich als Großstadt-Dandy blicken, eine Art hannoverscher Prinz von Wales.

Der Bürger Löns, hin- und hergerissen zwischen Fortschritt und Reaktion, lebt den Widerspruch seiner Zeit: „Jähe Laune, zähes Zielhalten; explosive Kraftäußerungen, neurasthenische Zusammenbrüche; heiße Ruhmsucht, kalte Menschenverachtung“, schreibt er über Napoleon, aber in Wahrheit über sich selbst. Seine zweite Ehefrau Lisa drückt es knapper aus: „Hermann war ein ganz armer Kerl, der in krankhafte Weise von einem Extrem ins andere kam und mit sich und dem Leben nicht fertig wurde.“ 1901 erscheinen erste Jagd- und Naturerzählungen. Für seinen Verleger sind sie ein Verlustgeschäft. Elisabet Löns hat fünf Fehlgeburten hinter sich und wird in ein Sanatorium eingeliefert. Dem Ehemann ist die Frau bloß noch lästig. „Es ging nicht anders mehr. Wenn ein lieber Freund mich nicht aufrecht gehalten hätte, säße ich heute verludert irgendwo in der Deckung.“ Im Dezember 1902 wird die Scheidung vollzogen. Zwei Monate darauf verlobt sich Hermann Löns mit der Redaktionsassistentin Lisa Hausmann. Er verlässt den Anzeiger, dem er Gesinnungslosigkeit und Leisetreterei vorwirft, und wird Mitherausgeber der neu gegründeten Hannoverschen Allgemeinen Zeitung.

Die Zeitung hält sich zwei Jahre, dann geht das Geld aus. Löns deckt während dieser Zeit immerhin einen Justizskandal auf: Prinz Prosper von Arenberg, verurteilt wegen Mordes an einem Untergebenen, feiert in der Haft Gelage und genießt auch sonst ungebührliche Vergünstigungen. Der Fall wird vom Gericht aufgegriffen, Prinz Arenberg landet in einer Heilanstalt. Löns sattelt um und heuert beim Hannoverschen Tagblatt an. Er führt, aus heutiger Sicht immer noch aktuell, die Beilagen Heimat, Kunst und Wissen, Jugend und Frauenfragen ein, betätigt sich als Lokalberichterstatter, Kulturkritiker, politischer Leitartikler und Feuilletonist. Er habe sich zu allem geäußert, außer zur Musik, heißt es in einer Magisterarbeit über den Journalisten Hermann Löns. Doch das Gewerbe widert ihn mehr und mehr an: „Es ist mit dem Journalismus wie mit der Luft: Ohne ihn kann ich nicht leben, allein davon mag ich nicht.“ 1905 startet er den Versuch einer Wirbeltierfauna Hannovers (vier Jahre später wird er alle Aufzeichnungen vernichten). „Schließlich war wohl die Jagd meine Rettung. Ganz urplötzlich entstand ein Gedicht, das sich sehen lassen konnte, eine Skizze, die Form besaß.“ 1906 erscheint eine weitere Sammlung von Jagdgeschichten, die sich gut verkauft. Wenn auch vorerst nur im hannöverschen Raum. „Vielleicht gib es Menschen, denen solche Halbschlafmystik gefällt“, schreibt ein Rezensent.

Löns-Biographen preisen die Naturschilderungen später als den wertvollsten Teil seines Werks, geprägt durch „kristallene Klarheit“. Lisa Löns bringt einen Sohn zur Welt, der auf den Namen Dettmer Udo Hans Wilhelm getauft wird. Die Geburt gestaltet sich schwierig, der Kleine ist körperlich und geistig behindert (er stirbt 1968 in den Bodelschwinghschen Anstalten in Betel). Löns ist auf dem Zenit seines journalistischen Erfolgs angelangt und erhält ein Angebot von der Schaumburg-Lippischen-Landeszeitung. Er hofft, in dem beschaulichen Umfeld endlich an größere Arbeiten gehen zu können. Nicht ganz widerspruchsfrei formuliert er seine Bewerbung: „Politisch stehe ich völlig frei da, verfolge eine streng nationale Politik und arbeite, wo ich kann, dahin, die verschiedenen Klassen des Volkes zum Gemeinschaftsgefühl zu bringen.“ Er bekommt ein Jahresgehalt von fünftausend Mark zugesprochen sowie eine zwanzigprozentige Beteiligung am Reingewinn der Zeitung. Und führt, wie jeder neue Chefredakteur, als Erstes ein neues Layout ein: Überschriften in Cicero und Zeilenanfänge mit fetten Spitzmarken statt mager gesperrt. Doch gesellschaftlich kann er nicht Fuß fassen. Er beginnt wieder zu trinken.

Der Hofbuchdrucker Grimme beschwert sich: Morgens um neun Uhr habe Frau Löns ihm mitgeteilt ihr Gatte sei arbeitsunfähig, da er erst um fünf Uhr früh von einem Abschiedsessen im Offizierskasino gekommen sei. Um elf habe Löns dann einem Boten gesagt, ihm sei das Erscheinen der Zeitung egal. Löns wird zum 30. September 1909 gekündigt. Worüber er mehr als glücklich ist: „Ich habe so viel zu tun, dass ich auf eine Stellung verzichten kann. Soeben habe ich einen famosen Bauernroman vollendet. Fünf bis sechs andere Romane habe ich im Kopf fertig, einige andere Bücher beinahe.“ Tatsächlich ist die Kündigung nur das Ventil, das vom Dampfkessel fliegt. Befreit von allen beruflichen Fesseln steigert sich Löns in einen wahren Rausch. Im Oktober beginnt er seinen „Wehrwolf“, einen Bauernroman, der im Dreißigjährigen Krieg spielt. Nach dem Motto: „Alle Hundsfötter, die hier nicht hergehören, totschießen wie tolle Hunde.“

Löns bringt das bluttriefende Epos innerhalb von zwei Wochen zu Papier. Sein Arbeitsstil trägt alle Anzeichen einer Manie: „Ich schreibe gänzlich ohne bewussten Willen, in halluzinatorischer Verfassung, die so weit geht, dass ich die Personen vor mir sehe, höre und rieche.“ Während der Arbeit flieht er in ein Wirtshaus, wo er behauptet, ein Mädchen erdrosselt zu haben. Am Neujahrstag verspricht er seiner Frau, vom Alkohol zu lassen, doch kurz darauf betrinkt er sich schon wieder bis zur Bewusstlosigkeit. „Wir gehen geradewegs auf eine Katastrophe zu“, klagt Lisa Löns.

Der „Wehrwolf“ wird Löns‘ meistverkauftes Werk. Bis 1923 werden dreihunderttausend Exemplare gedruckt. Im Zweiten Weltkrieg steigt die Auflage noch einmal steil an, insgesamt dürfte sie bei über einer Million liegen. Sein Biograph Wilhelm Deimann wundert sich nicht: Der Roman sei „in weiten Kreisen unseres zivilisationsüberfütterten Zeitalters ein Sang nach dem Herzen“ gewesen. Kurt Tucholsky drückt es weniger freundlich aus: „Sadismus mit ethischem Gesamtziel.“ In kurzer Folge erscheinen nun der Bauernroman „Der letzte Hansbur“, die Aufsatzsammlungen „Was da kreucht und fleucht“, „Mümmelmann“, „Aus Wald und Heide“. Löns macht sich an Gedichte, die hundertfach vertont zu Gassenhauern werden: „Ja, grün ist die Heide, die Heide ist grün.“ Oder: „Rose-Marie, sieben Jahre mein Herz nach dir schrie.“

Das hallt lange nach, erst in der Wandervogelbewegung, dann noch einmal im Heimatfilm der fünfziger Jahre in der Starbesetzung mit Sonja Ziemann und Rudolf Prack. Ein fernes Echo finden bis heute Löns Beiträge zum Naturschutzgedanken. Halbwegs belegt ist, dass er schon als Hernwachsender Brehms Tierleben auswendig kannte, mit der Flinte auf Krähen, Eichkatzen und Ratten schoss und die Beute ausstopfte, mit der Begründung, er habe die Tiere so lieb, dass er sie immer bei sich haben müsse. Als Abiturient entwickelte er ein spezielles Interesse an Käfern, Muscheln, Schnecken und Holzläusen. 1885 vermeldete die zoologische Sektion des Westfälischen Provinzvereins für Wissenschaft und Kunst, dass der Primaner Löns eine für das Münsterland neue Schneckenart gefunden habe. Als Naturschützer im engeren Sinne ist Löns nicht hervorgetreten, eher als Jäger

„Wenn ich jage, will ich Wildnis haben“, schrieb er, „will ich keinen Menschen, keinen Wagen hören, nichts hören und sehen will ich dann von Kultur. Urmensch will ich sein in der Urnatur.“ Dass er dazu ausgerechnet in der Heide auf die Pirsch geht, einer Kulturlandschaft par excellence, gehört zu den vielen Ungereimtheiten seines Lebens. Was ihn dort ärgert, sind vor allem die Reklametafeln. Dann die Flurbereinigung, bei der Bäume und Buschwerk dem Getreideanbau weichen müssen. Ferner die „Blumenrupperei der Ausflügler“, die nicht zuletzt dank seiner Schwärmerei in Horden in die Heide strömen. Und schließlich das „Schießertum“ der Jäger aus der Stadt, denen er jedes Verständnis für die Tierwelt abspricht. Das friedliche Landleben seiner geliebten Heidjer sieht er bedroht durch die Suche nach Erdöl, dem schwarzen Tod. Wobei er einen durchaus nüchternen Blick auf die Heidebauern wirft: „Es ist ein harter Schlag, der auf dem Hofe sitzt. Die Männer arbeiten viel und sprechen gar nicht; sie befehlen nur. Ihre Nasen sind gerade, ihre Augen kalt, ihre Lippen bilden einen scharfen Strich, ihre Knochen sind gewaltig, ihre Hände entsetzlich.“

Privat steuert Löns auf die angekündigte Katastrophe zu. 1911 ist auch seine zweite Ehe am Ende. Löns hat sich in Hannah Fueß, die Kusine seiner Frau verliebt. Ein Mann wie er brauche eben alle sieben Wochen eine andere Geliebte. Eines Morgens kommt er gegen fünf Uhr nach Hause, geht in sein Zimmer und schießt mit der Flinte auf die Heizung. Dann ruft er nach dem behinderten Sohn. Lisa Löns ergreift mit dem Kind die Flucht. Es kommt zu einem häßlichen Scheidungskrieg, in den halb Hannover mit hineingezogen wird. Löns verweigert jede Unterhaltszahlung und wird gepfändet. Von Oktober an heißt es, er sei „nach unbekannt verzogen“. Von da an geht es immer weiter mit ihm bergab. Löns irrt umher, über Berlin nach Wien, Graz, Innsbruck, Zürich, wo er lapidar vermerkt: „Hier interessiert mich eigentlich garnischt.“ Im November 1911 hat er nur noch einen Wunsch: schlafen und nie mehr aufwachen. „Aber wenn ich bedenke, wieviel Schönes ich meinem Volke noch schenken kann, hält mich das von dem letzten Schritt zurück.“

Zurück in Hannover findet er im Dienstmädchen Ernestine Sassenberg seine letzte Lebensgefährtin. Noch einmal schmiedet Löns Pläne, skizziert einen Roman „Der Antichrist“, dessen Held eine Wikingergestalt in Bügelhosen sein soll, ein Künstler, dessen Werk die Vorherrschaft des Blondblutes ist. Manische und depressive Zustände wechseln immer häufiger. Er teilt Freunden mit, ihm sei eine Stelle als Berichterstatter in Kairo angeboten worden, er könne aber auch eine zweijährige Reise mit Jagdaufenthalt in allen vier bis fünf Erdteilen antreten, selbstverständlich erster Klasse gegen gutes Honorar. Oder nach Berlin übersiedeln und dort in der Masse verschwinden. Überdruss und Ekel sind ihm nun ständige Begleiter. Nur einen Wunsch hat er noch, darin wieder ganz Kind seiner Zeit: „Eine Schlacht mitzumachen, aber mit der Waffe in der Hand, wo man das Weiße im Auge des Gegners sehen kann.“

Er muss nicht mehr lange warten, das Attentat auf den österreichischen Thronfolger und der Kriegsbeginn reißen ihn aus seiner Lethargie. „Ist das eine herrliche Zeit!“ begeistert sich Löns im August 1914, „Mensch, das Leben ist so schön jetzt, dass es sich lohnt, zu sterben.“ Löns ist 48 Jahre alt, in miserabler körperlicher und seelischer Verfassung und hat nie gedient. Man will ihn auch gar nicht haben beim Militär. Nur mit Mühe gelingt es ihm, zur Musterung beim Ersatzbataillon des Regimentes Generalfeldmarschall Prinz Albrecht von Preußen Nr. 73 vorgelassen zu werden. Er erscheint dort mit Panamahut und weißem Sommeranzug und wird als einfacher Füsilier angenommen. Am 3. September 1914 rückt Löns ins Feld aus, zehn Tage später ist er an der Front vor Reims. Das große Hurra vergeht ihm. Im Schützengraben und unter Artilleriefeuer notiert er: „Augen voll Dreck. Nase, Gesicht, Hände voller borkiger Wunden. Leichen, Leichen, Leichen. Verwesungsgeruch hier und da ganz schlimm.“ Wenn es einmal ruhig ist, beobachtet er Käfer und Rotkehlchen oder sieht nachts den Sternschnuppen zu.

Am 25. September liegt seine Kompanie bei Pontgivard in der Nähe von Loivre. „Frohe Stimmung, und es geht in die Linie.“ Am nächsten Morgen wird er beim Sturmangriff auf eine französische Stellung tödlich getroffen. Von 120 Mann seiner Kompanie kehren nur zwei Dutzend zurück. Löns Leiche bleibt knapp zwei Wochen zwischen den Fronten liegen, dann verscharrt ihn ein eiliges Bestattungskommando in einem Granattrichter. Noch anonymer hätte sein Grab gar nicht sein können. Aber es kommt anders. Ein Jagdfreund von Löns bewirkt, dass das 73. Regiment ein Kreuz aufstellen lässt. Ein Jahr nach Ende des Krieges werden an dieser Stelle nicht näher identifizierte Gebeine ausgegraben und auf den Militärfriedhof Luxembourg überführt. Von dort gelangen sie in ein anonymes Massengrab bei Loivre, wo sie nach Ansicht des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge wahrscheinlich auch geblieben sind.

Doch Löns entwickelt sich nachgerade zum Wiedergänger: Um die Jahreswende 1932/33 pflügt ein Bauer auf dem ehemaligen Schlachtfeld und fördert einen halbverrotteten deutschen Militärstiefel zutage. Das zugehörige Skelett trägt eine Erkennungsmarke und wird wiederum in einem Einzelgrab mit der Nummer 2128 in Loivre bestattet. Die nicht mehr gut leserliche Erkennungsmarke gelangt nach Berlin und wird einiger Mühe als die des Soldaten Hermann Löns identfiziert. Weil der Heidedichter mittlerweile als „Künder des Dritten Reichs“ gilt, ordert Adolf Hitler die feierliche Überführung nach Deutschland an. Als Ort der Beisetzung sind die Sieben Steinhäuser im Kreis Fallingbostel vorgesehen, eine steinzeitliche Begräbnisstätte. Der Düsseldorfer Bestattungsunternehmer August Schwitzke macht sich auf den Weg und bringt die exhumierten Überreste in einem Zinksarg in die Heimat zurück. Dort herrscht große Ratlosigkeit, denn inzwischen hat sich herausgestellt, dass die angepeilte Kultstätte auf dem künftigen Gebiet eines noch geheimgehaltenen Truppenübungsplatzes liegen würde. Außerdem geht das Gerücht, Hermann Löns sei Jude gewesen. Beziehungsweise Sozialdemokrat . Oder Pazifist. So oder so seien die Gebeine nicht echt. Auf Anweisung von Reichspropagandaminister Joseph Goebbels erscheint am frühen Morgen des 30. November 1933 ein Kommando von SA-Männern, entführt den Sarg aus der Friedhofskapelle von Fallingbostel und verbuddelt ihn ohne größeres Zeremoniell in der Nähe des Dorfes Barrl an der heutigen Bundesstraße 3 von Soltau nach Harburg.

Doch auch das ist noch nicht das Ende vom Lied. Löns Witwe Lisa gibt keine Ruhe, die Sache dringt bis zum Reichskriegsminister Werner von Blomberg vor, der es nicht angemessen findet, wie hier mit einem Gefallenen der Wehrmacht verfahren wurde. Am 2. August werden die vermeintlichen Knochen des Dichters Löns ein letztes Mal ausgegraben, auf einer Geschützlafette, geschmückt mit der Reichskriegsflagge, in den Tietlinger Wachholderhain gefahren und dort samt einer vom Führer persönlich unterzeichneten Urkunde mit militärischen Ehren beerdigt. Den Gedenkstein ziert bis heute ein Zeichen, das Böswillige für ein rudimentäres Hakenkreuz halten könnten. Tatsächlich handelt es sich um eine sogenannte Wolfsangel, mit der Löns häufig seine Unterschrift ergänzte; Gemeinden dürfen das Zeichen im Wappen tragen, Förster damit Bäume markieren, nur rechtsradikalen Organisationen ist die Verwendung verboten.

Auch der Verband der Hermann-Löns Kreise in Deutschland und Österreich schmückt sich damit, wobei man sagen muss, dass deren Tätigkeit mangels Nachwuchs langsam einzuschlafen droht. „Machen wir uns nichts vor“, sagt der Pressesprecher unverblümt, „der Verein stirbt irgendwann aus.“ Das ideelle Erbe wird wohl im Heimatbund aufgehen, materiell wird die Stadt Walsrode die Hand aufhalten, aber ehe es so weit kommt, stellen die Lönsfreunde lieber noch eine Stele auf. Oder zwei, je nachdem. Die Feierstunde geht dem Ende entgegen, zum Abschied stimmen alle die Hymne auf die Lüneburger Heide an, worin der Muskatellerwein getrunken und die roten Hirsche gejagt und Herzen getauscht werden wollen. Vallera und juchheirassa.

Hätte Löns ein besseres Andenken verdient? Vielleicht sogar ein besseres Leben? Zu anderen Zeiten wäre er vielleicht Mystiker geworden, begabt mit dem zweiten Gesicht. Oder Vordenker einer schwarz-grünen Regierung. Nur eines lässt sich mit Sicherheit sagen: Löns war zeitweilig irre. Die Welt, die nach ihm kam, war erheblich irrer.