Nur Geduld

Über die Tugend der Heiligen, das Verstreichen der Zeit und die geheime Macht der List

Von Jörg Albrecht


”Daß mich doch Gott erschlagen wollte und seine Hand ausstreckte und mir den Lebensfaden abschnitte! So hätte ich noch diesen Trost und wollte fröhlich springen. Was ist meine Kraft, daß ich ausharren könnte, und welches Ende wartet auf mich, daß ich geduldig sein sollte? Ist doch meine Kraft nicht aus Stein und mein Fleisch nicht aus Erz ..." (Buch Hiob 6,9-12)

Wir leben, wie jeder inzwischen weiß, in einer Dienstleistungsgesellschaft. Das heißt, dass, grob gerechnet, nur noch ein Viertel aller Menschen damit beschäftigt ist, etwas herzustellen, während die restlichen drei Viertel dafür sorgen, dass das Leben angenehm und reibungslos vonstatten geht. Brötchen am Sonntag, man fasst es kaum. Und Geld rund um die Uhr aus dem Bankautomaten. In einer Dienstleistungsgesellschaft ist Service das Allerwichtigste. "Guten Tag, mein Name ist Hans Obermaier, was kann ich für Sie tun?" So klingt das heutzutage bei jeder Hotline. Auf eines kann man allerdings wetten: dass vor dem freundlichen Herrn Obermaier noch etwas kommt. Und zwar die Warteschleife. Zurzeit sind leider alle Mitarbeiter mit Anrufen beschäftigt. Bitte haben Sie noch etwas Geduld. Folgt ein Adagio von Brahms. Zeit verrinnt. Jede Menge Zeit. Zeit, die tröpfelt wie Honig. Das Leben ist, genau genommen, recht kurz, verglichen mit der Zeit, die landauf, landab in Warteschleifen kreist.

"Wer geduldig ist, der ist weise, wer aber ungeduldig ist, offenbart seine Torheit. Ein gelassenes Herz ist des Leibes Leben ..." (Sprüche Salomos 14,29)

Warteschleifen sind überall. Beim Friseur, auf der Post, an der Kasse. Theoretisch ist es zwar möglich, mit dem Flugzeug von Hamburg nach London in 90 Minuten zu kommen. Praktisch aber wartet man fast die ganze Zeit - auf den Flughafenbus, auf den Start, auf die Landung, darauf, dass das Anschnallzeichen erlischt oder die anderen endlich aussteigen. Dito am Gepäckband. Dito im Verkehrsstau. Von Tür zu Tür vergeht häufig ein kompletter Arbeitstag, ohne dass man schon irgendwas erreicht hätte. Außer eben, glücklich angekommen zu sein. Und dann geht die Warterei erst richtig los: auf den Kunden, auf den Chef, auf das Ende einer Konferenz Konferenzen, nebenbei, sind die anstrengendste Form des Wartens, weil alle so lange dableiben müssen, bis alles gesagt ist, und zwar von allen. Warum muss gewartet werden? Weil der Menschen so viele sind und alle drankommen wollen. Warten musste man im real existierenden Sozialismus, warten muss man im globalen Kapitalismus, warten wird man im Kommunismus müssen und wahrscheinlich auch im Himmel. Warten ist zutiefst demokratisch, gleichzeitig genauso undemokratisch, denn es heißt beim Warten allemal sich unterordnen und bescheiden (wie ja auch das Wort Geduld eine negative Herkunft hat, es stammt von dulden, erdulden).

"Der Ausgang einer Sache ist besser als ihr Anfang. Ein Geduldiger ist besser als ein Hochmütiger. Sei nicht schnell, dich zu ärgern, denn Ärger ruht im Herzen des Toren" (Prediger Salomo 7,8-9)

Geduld ist dummerweise immer dann vonnöten, wenn es brennt. Erst recht im Zeitalter des Computers. Theoretisch sind Computer schnell. Alles machen sie per Tastendruck. Aber es kommt der Tag, da häufen sich die Fehlermeldungen, und das System bröselt. Was wurde zu diesem Zweck erfunden? Der Notdienst. Für Notdienste gilt, was Friedrich der Große über die Österreicher gesagt hat: In ihren Bewegungen träge, langsam bei der Verwirklichung ihrer Pläne, betrachten sie die Zeit als ihr Eigentum. Wir zählen in Gedanken hübsch langsam die Tage zurück bis ins Kambrium - schon ist wieder Herr Obermaier in der Hotline und möchte wissen, was er für uns tun kann. Da gibt es jetzt mehrere Möglichkeiten: Hotline A ist nicht zuständig, weil vielmehr Firma B der Schuldige ist. Firma B wiederum kennt das Problem, aber kann nur so viel sagen, dass es vom Hersteller C verursacht wird. Hersteller C bietet grundsätzlich keinen Service, das überlässt er dem autorisierten Fachhandel. Der Fachhändler seinerseits ist bass erstaunt: Ich? Soll mich auskennen? So gerät der Kunde aus der lästigen Warte- in die teuflische Wartungsschleife. Und tobt. Und leidet. Und wartet.

"Wir rühmen uns auch der Bedrängnisse, weil wir wissen, daß Bedrängnis Geduld bringt, Geduld aber Bewährung, Bewährung aber Hoffnung ..." (Brief des Paulus an die Römer 5,3-4)

Große Heilige waren immer große Dulder. Uns Übrigen geht diese Tugend ab, weshalb geschubst wird und gedrängelt, gerempelt und gemacht - jeder am liebsten mit der Lichthupe auf der Überholspur. Der Frömmste ist nicht frei davon, selbst Martin Luther klagte: "Ich muß Geduld haben mit dem Papst, ich muß Patienz haben mit den Schwärmern, ich muß Geduld haben mit den Scharrhansen, ich muß Patienz haben mit dem Gesinde, ich muß Patienz haben mit Käthen von Bora, und der Patienz ist noch so viel, dass mein Leben nichts anders will sein als Patienz." Und dann ging es wieder ans Übersetzen. Luther wusste noch nichts vom book on demand, sonst hätte er das gefordert, just in time. Es fällt sowieso auf, dass in der Bibel dauernd von mangelnder Geduld die Rede ist - der Herr scheint nicht genug davon geschaffen zu haben. Sie ist ein knappes Gut, weshalb von ihr nebst den Aposteln vor allem die Aufrührer gepredigt haben. Fasst euch in Geduld, dann werdet ihr den gerechten Lohn empfangen, diesseits oder jenseits von Eden, aber ganz bestimmt nicht hier und jetzt. Das Volk? Es hat zu allen Zeiten gemurrt. Wie ein altes polnisches Sprichwort sagt: Schlaft schneller, wir brauchen die Kissen.

"Ein Geduldiger ist besser als ein Starker, und wer sich selbst beherrscht, besser als einer, der Städte gewinnt" (Sprüche Salomos 16,32)

Einer dieser Heilsverkünder, wenn auch kein Heiliger, war der russische Fürst Pjotr Kropotkin. "Unsere Aktion", schrieb er in der Zeitschrift Le Revolte, "muß die permanente Revolution sein, mit Wort, Schrift, Dolch, Gewehr, Dynamit ... Alles ist gut für uns, was außerhalb der Legalität ist." Einerseits. Andererseits brachte er, nach etlichen Gefängnisaufenthalten, ein Werk mit dem Titel Field, Factories and Work-shop zustande, in welchem er darlegt, wie man unter Zuhilfenahme moderner Kommunikationsmittel, biodynamischer Landwirtschaft und lokaler Produktion eine Dezentralisierung der Städte vorantreiben könnte, im Form von kleinen Gemeinschaften, welche auf direktem menschlichen Kontakt beruhen würden und die Vorteile des Landes mit denen der Stadt verbinden. Das war 1899. Drei Jahre später ließ er ein Buch über die Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt folgen, zu einer Zeit, in welcher der Sozialdarwinismus in schönster Blüte stand. Dass er Anarchist geworden sei, begründete Pjotr Kropotkin ausgerechnet mit seiner Bewunderung für die Bauern und Uhrmacher des Schweizer Jura, die mit mechanischer Geduld sowohl ihren Acker wie die Zeit bezwangen. Tausende nahmen 1921 an Kropotkins Begräbnis in Moskau teil - es war für lange Zeit die letzte öffentliche Protestversammlung gegen die Herrschaft der Bolschewiki.

"Ich wandte mich und sah, wie es unter der Sonne zugeht/daß zum Laufen hilft nicht schnell sein/und zum Streite hilft nicht stark sein/und zur Nahrung hilft nicht geschickt sein/und zum Reichtum hilft nicht klug sein/daß einer angenehm sei/und vorankommt/dazu hilft nicht/daß er ein Ding wohl kann" (Prediger Salomo 9,11)

Sondern alles liegt an Glück und Zeit. Man dürfe die Theologie nicht der Reaktion überlassen, hat in diesem Zusammenhang Ernst Bloch bemerkt. Von Walter Benjamin ist der Stoßseufzer überliefert, die eigentliche Katastrophe bestünde darin, dass alles immer so weitergeht. Jede Sekunde könne zwar schon die sein, in welcher der Engel der Geschichte die Notbremse zieht. Bis dahin aber gelte es dringend, eine Metaphysik des Wartens zu entwerfen. "Ich bin viel krank gewesen", berichtet Benjamin über seine Kindheit, "daher stammt vielleicht, was andere als Geduld an mir bezeichnen, in Wahrheit aber keiner Tugend ähnelt: die Neigung, alles, woran mir liegt, von weitem sich mir nahen zu sehen wie meinem Krankenbett die Stunden." Immer in der Hoffnung, dass es eines Tages besser werden muss, wenn auch Garantie nicht gegeben ist. Eine Art militanter Optimismus, ähnlich der berühmten Pascalschen Glaubenswette: Beweisen kann man's nicht, dass Gott existiert, aber im Falle, dass doch, ist es unendlich viel besser, an ihn geglaubt zu haben. Andersherum gewinnt man nämlich viel weniger. Von da an ist es allerdings auch nicht weit bis zu Erich Honeckers biederer Überzeugung, den Sozialismus in seinem Lauf hielten weder Ochs noch Esel auf.

"Jedes gut Werk will Schweiß und Mühe. Nur die tägliche Fron zwinget den Segen hinein in die widerspenstigen Furchen" (Vergil, Georgica)

Der Bankier Alfred Herrhausen soll einmal gesagt haben: "Die meiste Zeit verliert man dadurch, dass man die Dinge nicht zu Ende denkt." Ein beherzigenswertes Wort, allein, nur die halbe Wahrheit. Festina lente, sagt sich der Weise, eile mit Weile, aber eile. Das unterscheidet ihn vom bloß Frommen. Von einem wird erzählt, der, von der Flut überrascht, auf das Dach seines Hauses kletterte. Nach einer Weile kam ein Mann in einem Boot und forderte ihn auf: Spring herunter! Nein, sagte der Bedrängte, Gott wird mich schützen. Und die Flut stieg und stieg. Wieder kam ein Boot. Wieder lehnte er ab. Ganz zum Schluss, das Wasser stand ihm schon bis zum Hals, kreiste sogar ein Hubschrauber über ihm, aber er weigerte sich standhaft, unter Bezug auf Gottes zweifelsohne kurz bevorstehende Hilfe, das rettende Seil zu ergreifen. Woraufhin er ertrank und in den Himmel kam, um Gott sofort wüst zu beschimpfen: "Warum hast du mich nicht beschützt?" - "Mein Lieber", antwortete der, "ich habe dir zwei Boote und einen Hubschrauber geschickt, mehr war nicht drin." Schopenhauer lehrt dazu: "In wichtigen Dingen, ohne Not, nichts zu rühren: quieta non movere. Ist man aber einmal zum Entschluß gekommen, dann ängstige man sich nicht durch stets erneuerte Überlegung des bereits Vollzogenen." Sattle gut, und du reitest getrost, sagt ganz ähnlich ein italienisches Sprichwort.

"Halte am Vorhaben fest! Denn es beugt sich dem Pflug mit der Zeit selbst der störrige Jungstier, und dem geschmeidigen Zaum folgt mit der Zeit auch das Roß" (Ovid: Die Liebeskunst)

Gibt es nun einen Mittelweg? Zwischen subito pronto und dem Dreinschicken ins Unvermeidliche? Xerxes, König der Perser, ließ das Meer peitschen, weil es ihm nicht zu Willen war - er ist uns nicht sympathisch. Aber steht uns allein deshalb König Hadrian näher, der auf die Münzen des römischen Reiches diverse Tugenden prägen ließ, darunter die Milde sowie die tranquillitas? Man kann das mit Ruhe übersetzen oder mit Gelassenheit. Gelassen, das klingt verdächtig. "Ich sehe das alles ganz gelassen", sagte der Ehrenvorsitzende, als man ihn mit den Fingern im Mustopf erwischte. Lazzan soll im Germanischen so viel wie "träge, müde, matt" bedeutet haben. Gelazen im Sinne von "ruhig, beherrscht, gleichmütig" hingegen soll aus dem Niederhochdeutschen hervorgegangen sein und so viel bedeutet haben wie "sich niederlassen, sich benehmen". Mystiker haben daraus "gottergeben" gemacht, Aufklärer "unbekümmert". Für Goethes Werther war Gelassenheit "leidenschaftslose Überlegenheit", für Nietzsche die stolze Haltung des "großen Einsamen". Und noch heute rätseln manche, was Heidegger darunter verstanden haben könnte, als er Gelassenheit als Ablassen definierte, um sich in der philosophischen Gegengeraden auf die Wesung der Wahrheit des Seins als Ereignis einzulassen. Ein letztes Mal gefragt: Gibt es einen Ausgang aus diesem Zwiespalt? Zwischen Wollen und Dürfen, Anspruch und Können, zwischen jähem Aufbruch und zähem Beharren? Es gibt diesen Ausweg tatsächlich. Allerdings nur in einer Volksausgabe. Das Volk nennt ihn List, manchmal ergänzt durch ihre Stiefschwester, die Tücke. Die List kommt doppelt hegelianisch daher. Und in der Volksausgabe richtig platt, wie denn sonst.

"Den Swinegel sien Fro aver blev ruhig up ehren Platze. As nu de Haas baben ankööm, rööp em de Swinegel entgegen: Ick bün all hier" (Grimms Märchen)

© DIE ZEIT, Nr. 1/2000