Das Corona-Rätsel

Von Jörg Albrecht

Das Virus kam wie aus dem Nichts. Sein Ursprung liegt im Dunkeln. War es ein Laborunfall?

Das Weiße Haus in Washington hat schon vor Donald Trump die merkwürdigsten Leute kommen und gehen sehen. Einer davon hieß ebenfalls Donald und mit Nachnamen Rumsfeld. Vom ehemaligen amerikanischen Verteidigungsminister stammt das kryptische Zitat: „Es gibt Dinge, von denen wir wissen, dass wir sie wissen. Es gibt Dinge, von denen wir wissen, dass wir sie nicht wissen. Und dann gibt es da noch Dinge, von denen wir nicht einmal wissen, dass wir sie nicht wissen.“

Rumsfeld bezog das damals auf den Verdacht, der Irak könne in den Besitz von Massenvernichtungsmitteln gelangt sein. In letzter Konsequenz war es die Begründung für den dritten Golfkrieg, auch wenn sich am Ende herausstellte, dass Saddam Hussein nichts dergleichen in der Hand hatte. Rumsfeld ist vielfach kritisiert worden für seine Bemerkung. Man kann sie zurückführen auf den libanesisch-amerikanischen Finanzmathematiker Nassim Nicholas Taleb, der dafür das Bild des „Schwarzen Schwans“ gewählt hat. Also einer Erscheinung, die aus dem gewohnten Schema herausfällt. Das unbekannt Unbekannte kann demnach aus dem Nichts auftauchen, gravierende Folgen haben, aber leider nicht vorhergesehen und damit auch nicht rechtzeitig abgewendet werden.

Ein schwarzer Schwan war das nicht

Bei näherem Hinsehen ist die aktuelle Corona-Pandemie allerdings kein schwarzer, sondern ein weißer Schwan.  Epidemiologen und Virologen warnten seit langem, dass etwas kommen würde. Aber niemand wusste, was genau. Und der Rest der Welt wollte sich darüber lieber nicht den Kopf zerbrechen. Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat vor zwei Jahren immerhin versucht, im Kaffeesatz zu lesen. Anfang 2018 erfand eine Expertengruppe dafür den Begriff „Krankheit X“.  Ausgelöst würde sie voraussichtlich von einem Virus, das von Tieren stammt, und zum ersten Mal dort aufträte, wo der Mensch durch Urbanisierung und intensive Landwirtschaft immer enger in Kontakt kommt mit den letzten unberührten Lebensräumen. Irgendein schlummernder Erreger würde seine Chance nutzen und sich entlang der Transport- und Handelsrouten schnell und lautlos verbreiten. Krankheit X wäre ungefähr so ansteckend wie die normale saisonale Grippe, hätte aber eine höhere Sterblichkeitsrate. Weil außerdem zu diesem Zeitpunkt noch kein Mensch entsprechende Abwehrkräfte besäße, würde das Virus die Gesellschaft in ihren Grundfesten erschüttern. Genauso ist es mit Sars-CoV-2 und Covid-19 gekommen.

Historisch gesehen, hat es Kandidaten gegeben, denen man das eher zugetraut hätte. Das hämorrhagische Rift-Valley-Fieber schlug 1931 erstmals in Kenia zu und hat sich seitdem in Afrika ausgebreitet. Es befällt Wiederkäuer wie Schafe, Ziegen, Rinder, Kamele oder Antilopen, kann aber durch Stechmücken auch auf den Menschen übertragen werden. Das Zika-Virus wurde bereits 1947 in Uganda isoliert, geriet aber erst 2015 in die Schlagzeilen, als es durch Ägyptische Tigermücken quer durch Südamerika und darüber hinaus transportiert wurde. Als potentiell hochgefährlich wird weiterhin das Marburg-Virus eingestuft, mit dem sich 1967 einige Labormitarbeiter der Behringwerke im hessischen Marburg infiziert hatten, als sie dabei waren, Masern- und Polio-Impfstoffe an Äthiopischen Grünen Meerkatzen zu testen.

Viren sind treue Begleiter

Die WHO nannte weitere Keime, die man in Zukunft scharf im Auge behalten müsse: Lassa, Ebola, Hendra, Nipah – alle benannt nach den Orten, an denen sie erstmals gesichtet wurden. Auch sie hatten Zoonosen ausgelöst, waren also vom Tier auf den Menschen übergesprungen. Seit der Jahrtausendwende gesellten sich zu diesem dreckigen halben Dutzend die Coronaviren Sars-CoV-1 und Mers-CoV hinzu, ersteres vermutlich in Fledermäusen und/oder Schleichkatzen entstanden, letzteres wohl durch Dromedare übertragen. Alle diese Erreger konnten gerade noch rechtzeitig eingekreist werden; die Seuchen blieben regional begrenzt, auch wenn die Zahl der Opfer wie im Falle von Ebola bereits in die Zehntausende ging.

Und nun Sars-Cov-2. Was wissen wir darüber? Viel, und gleichzeitig sehr wenig. Wir kennen den Ursprung von Sars-CoV-2 nach wie vor nicht und können nicht voraussagen, wie es sich weiterentwickeln wird. Wir wissen obendrein nicht, ob und in welchem Umfang bereits Kreuzimmunitäten gegen harmlosere Varianten des Keims in der Bevölkerung vorhanden sind, die eventuell vor einer Ansteckung schützen könnten.

Es ist nicht das erste Mal, dass die Menschheit vor einer solchen Herausforderung steht. Keime haben uns seit Urzeiten begleitet. Dank unseres lernfähigen Immunsystems (und mit etwas Glück) sind wir noch immer davongekommen. Aber Viren lernen ebenfalls dazu, und das mit rasender Geschwindigkeit. Sie sind Meister der Anpassung, weil sie ihr Erbgut beständig ändern. Ihre Evolution verläuft im Zeitraffer. Umso wichtiger ist es, wissenschaftlich zu verstehen, was da im Einzelnen vor sich geht. Das führt tief hinein in die Molekularbiologie, ins Reich der Genomanalysen und Sequenzvergleiche. Bei den Nukleotiden und Aminosäuren hoffen die Forscher eine Antwort zu finden auf die Frage, was das neuartige Coronavirus so überaus gefährlich macht. Denn es hat Verwandte, die weitaus harmloser daherkommen.

Von der Katze bis zum Wal - Corona steckt überall

Die humanen Coronaviren HKU1, OC43, NL63 und 229E beispielsweise rufen in der Regel nur leichte Symptome hervor, darunter den typischen saisonalen Schnupfen. Man schätzt, dass sie jährlich für zehn bis dreißig Prozent aller Infektionen der oberen Atemwege verantwortlich sind. Auch unter Tieren sind Coronaviren weit verbreitet. Bei Kühen und Schweinen lösen sie Durchfall aus, in Hühnerbeständen eine hochansteckende Bronchitis, gegen die bereits ein Impfstoff entwickelt wurde. Komplett entschlüsselt ist mittlerweile das Erbgut von mehr als dreihundert Coronaviren.  Die meisten davon wurden in der einen oder anderen Form beim Menschen und in verschiedenen Fledermausarten isoliert. Aber es gab auch Treffer bei Hauskatzen und Nagetieren – sogar beim Belugawal wurden die Virusjäger fündig.

Und das ist nur ein kleiner Ausschnitt: Experten schätzen, dass in der Natur Tausende weitere, weniger gut charakterisierte oder noch gänzlich unbekannte Coronaviren lauern. Bioinformatiker haben sich umgehend darangemacht, die vorhandenen Datensätze zu durchforsten. Seit Anfang 2020, als die ersten Krankheitsfälle aus der chinesischen Provinzhauptstadt Wuhan gemeldet wurden, reißt der Strom der eilig zusammengeschriebenen und auf sogenannten Preprint-Servern veröffentlichten Publikationen nicht ab. Sogar Spezialisten wie Christian Drosten von der Berliner Charité haben Mühe, den Überblick zu behalten. Würden diese vorläufigen Ergebnisse und Arbeitshypothesen freilich dem üblichen Gutachterprozess unterworfen, würde es nicht Tage, sondern Wochen, Monate oder sogar Jahre dauern, bis sie ans Licht der Öffentlichkeit kämen. Wie alles, was mit Covid-19 zusammenhängt, muss deshalb auch alles, was die Forschung derzeit liefert, mit Skepsis betrachtet werden und nicht als verlässliches Wissen.

Die seltsamsten Theorien machen die Runde

Das Preprint-Wesen bringt noch einen unerfreulichen Nebeneffekt mit sich. Unreife, von anderen Forschern nicht bestätigte Ergebnisse werden von vielen Laien, die das nicht einordnen können, auf der Stelle für bare Münze genommen. Halbgare Erkenntnisse infizieren anschließend die sozialen Netze und grassieren dort ähnlich rasch wie das Virus in der Bevölkerung. So finden krude Theorien eine Resonanz, die sogar in Zeiten von Twitter ungewöhnlich ist. Eine davon hat das Schweizer Online-Magazin Republik genauer nachverfolgt. Am 31. Januar erschien auf dem Preprint-Server bioRxiv eine Studie von Forschern aus Neu-Delhi unter der Überschrift „Uncanny similarity of unique inserts in the 2019-nCoV spike protein to HIV-1 gp120 and Gag“. Darin wurde behauptet, man habe starke Übereinstimmung zwischen dem Corona- und dem Aidsvirus entdeckt. „Unheimlich ähnlich“ machte sofort die Runde.

Man hatte es ja gleich gewusst: Das neue Virus konnte nur das Ergebnis eines verunglückten Laborexperimentes sein, beziehungsweise eine auf die Welt losgelassene Biowaffe. Schon einen Tag später sah sich bioRxiv gezwungen, über jedem einschlägigen Preprint eine Warnung zu plazieren: Solche Vorabveröffentlichungen seien mit Vorsicht zu betrachten und keinesfalls etabliertes Wissen. Tags darauf zogen die indischen Autoren nach heftiger Kritik ihrer Fachkollegen die Studie wieder zurück. Da war sie aber schon einmal rund um den Globus gewandert. An die siebenhunderttausend Nutzer des Servers luden sie als Zusammenfassung oder im Volltext herunter, fast zwanzigtausend reichten sie auf Twitter weiter, sie war Gegenstand von knapp hundert Nachrichtenartikeln. Noch einmal neues Futter bekam die Story Mitte April, als der französische Virologe Luc Montagnier dem Nachrichtensender CNews ein Interview gab, in dem er behauptete, Wissenschaftler aus China und den Vereinigten Staaten hätten wohl an einem Impfstoff gegen Aids gebastelt, dabei sei ungeplant Sars-CoV-2 entstanden und versehentlich aus dem Labor geschlüpft, wo es seither unter dem unheilvollen Einfluss von 5G-Sendemasten für das mobile Internet sein Unwesen triebe. 

Montagnier, muss man dazu wissen, war seinerzeit an der Entdeckung des HIV beteiligt und dafür 2008 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet worden. Seitdem widmet sich der heute 87-Jährige der Erforschung geheimnisvoller elektromagnetischer Wellen, die in homöopathischer Verdünnung aus dem Erbgut von krankmachenden Bakterien und Viren strahlen würden. Was nur beweist, dass keine Theorie zu irre ist, als dass sie nicht doch von manchen ernst genommen wird. Populär ist ja auch die Überzeugung, man könne derlei Zumutungen begegnen, indem man sich einen Hut aus Aluminium aufsetzt.

Auf dem Fischmarkt ist Sars-CoV-2 jedenfalls nicht entstanden

Was aber kann nun wirklich als gesichert gelten? Die gängigste Theorie über den Ursprung des neuen Coronavirus lautet, es sei auf dem Fischmarkt in Wuhan entstanden, wo auch Wildtiere feilgeboten worden seien. Aber neue Erreger entstehen nur durch seltene Mutationen, und die können sich nur in großen Populationen durchsetzen. Dass in Wuhan beispielsweise ein Pangolin von einer Fledermaus gebissen wurde und daraufhin den Vorläufer von Sars-CoV-2 ausbrütete, ist wenig plausibel. Eher schon ist vorstellbar, dass Bauern im weniger entwickelten Süden Chinas regelmäßig Kot von Fledertieren gesammelt haben, um damit ihre Felder zu düngen; diese Infektionskette konnte freilich nicht nachgewiesen werden. Genau so wenig wie die Vermutung, die Christian Drosten geäußert hat; er hält es für möglich, dass Sars-CoV-2 aus der Massentierhaltung stammt, etwa von Marderhunden, die in China und anderswo in riesigen Pelzfarmen leben. So lange nichts davon bewiesen ist, muss man sich an die vorliegenden Fakten halten.

Leistungsfähige Computer sind heute imstande, biologische Datenbanken in null Komma nichts zu scannen. Das wird auch fleißig praktiziert, weil es wesentlich bequemer ist, als durch schimmlige Fledermaushöhlen zu kriechen. Was kam bei den Analysen heraus? Hier wird es nun speziell.

Ein tiefer Blick in die molekularen Eingeweide

Das Rätsel lautet: Was macht Sars-CoV-2 anders? Welchen Trick hat es gelernt, um derart erfolgreich neue Opfer zu infizieren? Dreh- und Angelpunkt scheint eine sogenannte Furin-Schnittstelle zu sein. Man findet sie in der Aminosäuresequenz des Virus ungefähr zwischen Position 670 und 690. Das Enzym Furin spielt in Säugetierzellen eine wichtige Rolle als molekularer Scharfmacher. Es aktiviert zahlreiche andere Proteine und schneidet sie zurecht. Diese körpereigenen Alleskönner werden nun von etlichen Krankheitserregern für ihre Zwecke gekapert. Das Aidsvirus und das Grippevirus, aber auch Dengue-, Ebola- und Marburg-Viren sind darauf angewiesen, dass Furin ihre Hülle spaltet, damit sie in die Zelle eindringen können. Viele, aber nicht alle Coronaviren besitzen ebenfalls eine furinspezifische Schnittstelle, die an dem typischen Stachel-Protein ansetzt, mit dem diese Erreger an der Zelle andocken. Und zwar an einen Rezeptor namens ACE2 (Angiotensin-Converting Enzyme 2), der eigentlich dafür da ist, den Blutdruck zu regulieren.

Betrachtet man die Angelegenheit genauer, ist es die Wechselwirkung des Furins mit einem bestimmten, knapp dreißig Aminosäuren umfassenden Bereich in der S2-Untereinheit jener Proteinstachel. Im Falle des Sars-CoV-2 fand man ein paar neue Aminosäuren, welche die Bindung an den Rezeptor verbessern. Und außerdem eine kurze Einfügung, mit der die Furin-Schnittstelle optimiert wird. Dabei handelt es sich um eine Insertion von nur vier Aminosäuren. Vier Aminosäuren entsprechen zwölf Nukleotiden im Bauplan des Virus. Das sieht dann im vorliegenden Fall so aus: (T)CCTCGGCGGGC. Und führt zur Reihenfolge Prolin-Arginin-Arginin-Alanin. Das erste ist die genetische Sequenz, das zweite die der Aminosäuren. Der exakte Schnitt folgt zwei Stellen später, zwischen einem weiteren Arginin- und einem Serin-Baustein. Arginin ist eine Aminosäure, die in ihrer Seitenkette eine stark basisch reagierende Atomgruppe enthält, weshalb eine derartige Schnittstelle in der Literatur häufig auch als „polybasisch“ bezeichnet wird; bei Influenzaviren aus dem Geflügelreich macht sie den entscheidenden Unterschied zwischen schwach- und hochpathogenen Stämmen aus. Modelliert man nun die dreidimensionale Struktur des gesamten Stachel-Proteins mit und ohne dieses kleine Insert, zeigt sich, dass sein Vorhandensein eine in den Raum ragende Extraschleife am Übergang zwischen der S1- und S2-Untereinheit erzeugt, die Sars-CoV-1 noch nicht hatte. Sie taucht erst bei Sars-CoV-2 auf.

Alles dreht sich um die neue Furin-Schnittstelle

Veränderungen in der Proteinstruktur können biologisch weitreichende Folgen haben. Christian Drosten hat die neue Schnittstelle mit der Perforation auf einem Notizblock verglichen, die das Abreißen einer Seite erleichtert. Das ist ein hübsches Bild. Aber es hilft bei der Fahndung nach dem Ursprung der Seuche nicht weiter. Denn wo ist diese ominöse Insertion um alles in der Welt hergekommen? Nach einem gezielten gentechnischen Eingriff sieht das nicht aus, dafür hätte man mit großer Sicherheit auf eine der bereits bekannten Sequenzen zurückgegriffen. Auch würde man Spuren der genetischen Werkzeuge sehen, die bei einer solchen Manipulation zum Einsatz kommen. Dass die Einfügung das Resultat einer spontanen Mutation sein könnte, ist jedoch ebenso unwahrscheinlich, weil die allermeisten Mutationen bloß vorhandenes genetisches Material löschen oder allenfalls austauschen.

Hier ist aber etwas Neues entstanden. Am einfachsten lassen sich Insertionen über den Mechanismus der Rekombination erklären, der auch bei Coronaviren vorkommt. Dazu müsste allerdings ein zweites Virus gefunden werden, welches dieses kleine Stückchen Zusatzinformation im Rahmen einer Ko-Infektion zur Verfügung gestellt hätte. Das ist bisher trotz intensiver Suche nicht gesichtet worden. Man könnte auch vermuten, dass Sars-CoV-2 die fragliche Sequenz in einer bereits infizierten Zelle aufgeschnappt hat, doch zumindest im menschlichen Genom findet sich nichts Entsprechendes. Stattdessen hat man bei einer Expedition, die von Mai bis Oktober 2019 in der Provinz Yunnan stattfand, in einer weiteren Fledermausart (Rhinolophus malayanus) ein Virus entdeckt, das an derselben Stelle eine andere Insertion trägt. Dies spräche wiederum dafür, dass hier eine sogenannte template-freie Polymerisation stattgefunden haben könnte, also eine Art biochemischer Reparatur, mit der große RNA-Viren wie Corona versuchen, ihr Erbgut zu stabilisieren. Man hat solche Ereignisse im Labor an Vogelgrippe-Viren beobachtet, und es hat sich gezeigt, dass sie auch spontan auftreten, wenn man den Erreger nur lange genug durch Zellkulturen oder durch infizierte Hühner schleust. 

Der Fachbegriff lautet “Gain of Funktion”

Derartige Experimente sind in China, aber auch am Friedrich-Löffler-Institut auf der deutschen Ostseeinsel Riems und anderswo durchgeführt worden. Die Vermutung ist nicht völlig aus der Luft gegriffen, dass diese Art des Neuerwerbs viraler Fähigkeiten in Zellkulturen und in Tiermodellen deutlich schneller vonstatten gehen kann als draußen in der Natur. Es gibt sogar einen eigenen Forschungszweig, der sich ausschließlich damit beschäftigt. Der entsprechende Fachbegriff lautet „Gain of Function“. „Gain of Function“ tauchte in der öffentlichen Debatte erstmals im Zusammenhang mit einem Experiment niederländischer Forscher um Ron Fouchier vom Erasmus Medical Center in Rotterdam auf. Ihm (und gleichzeitig Yoshihiro Kawaoka von der University of Wisconsin war es 2011 gelungen, Frettchen mit hochpathogenen, aber wenig ansteckenden Vogelgrippe-Viren zu infizieren und die Erreger anschließend in die Atemwege von Artgenossen zu schleusen. Nach der zehnten Passage hatte das Virus zusätzliche Mutationen erworben, mit fatalen Folgen für die Frettchen und theoretisch auch für den Menschen, weil dessen Atemtrakt ganz ähnlich aufgebaut ist.

Das führte zu einer internationalen Debatte, ob man die Ergebnisse solcher Versuche überhaupt veröffentlichen dürfe, und ob man derartige Experimente vielleicht nicht besser untersagen sollte. Ein weltweites Moratorium wurde erwogen, aber schließlich wieder gelockert, so dass Gain-of-Function-Experimente mittlerweile zwar überwacht werden, aber nicht gänzlich verboten sind

Warum nimmt man die Risiken, die beim Hantieren mit dem Erbgut von Killerkeimen zweifellos vorhanden sind, überhaupt in Kauf? Die beteiligten Forscher rechtfertigen ihr Tun mit dem Argument, man müsse auf alles vorbereitet sein, was die Natur eines Tages von sich aus hervorbringen könnte. Und so lange es noch nicht so weit sei, müsse man ihr im Labor eben auf die Sprünge helfen. So hat es folgerichtig auch eine Reihe von Gain-of-Function-Versuchen mit menschlichen Coronaviren gegeben. Besonders prominent ragt eine Arbeit hervor, die unter Leitung des Amerikaners Ralph Baric hauptsächlich an der University of North Carolina in Chapel Hill durchgeführt wurde, unter Mitwirkung der bekannten chinesischen Virologin Shi Zhengli und einem weiteren Mitarbeiter des bereits erwähnten Institute of Virologe. Ausgangspunkt war ein Coronavirus, das man von Patienten isoliert hatte, die während der ersten Sars-Epidemie 2003 erkrankt waren. Es wurde neu rekonstruiert und so angepasst, dass es im Labor Mäuse anstecken konnte, die fortan als Tiermodell dienten. In dieses Konstrukt pflanzten die Forscher zusätzlich die Information für ein bestimmtes Stachel-Protein ein, das es dem Virus ermöglichte, leichter in die Zellen seines Opfers einzudringen. Es war nun imstande, sich auch bestens in Kulturen menschlicher Lungenzellen zu vermehren. Die Forscher testeten verschiedene Antikörper und mögliche Impfstoffe, um herauszufinden, wie man der Virus-Chimäre eventuell beikommen könnte. Sie mussten jedoch feststellen, dass nichts davon half, beziehungsweise, dass es die Sache nur noch schlimmer machte.

Ralph Baric und seine Mitstreiter hätten ihre Versuche gern an Menschenaffen fortgeführt. Dazu ist es, nach allem, was man weiß, nicht gekommen. Ob dabei neue Erkenntnisse herausgekommen wären, ist fraglich. Bislang konnte niemand demonstrieren, dass Gain-of-Function-Versuche wesentlich dazu beigetragen hätten, Medikamente oder Impfstoffe zu entwickeln. Umgekehrt wird nicht bestritten, dass derartiges Herumprobieren schwer kalkulierbare Risiken mit sich bringt.

Experimente mit unabsehbaren Folgen

Selbst unter penibelsten Sicherheitsvorkehrungen kommt es zu Zwischenfällen. Einige davon sind dokumentiert, zum Beispiel der Fall eines 27 Jahre alten Studenten der Mikrobiologie, der 2004 an der Universität von Singapur an einem abgeschwächten Stamm des West-Nil-Virus arbeitete. Um ihn mit stärker pathogenen Stämmen zu vergleichen, wechselte er in ein benachbartes Hochsicherheitslabor, wo mit Isolaten des gerade erst entdeckten Sars-CoV-1 hantiert wurde. Nach einer kurzen, aber anscheinend nicht besonders gründlichen Einweisung bekam er Zutritt. Es kam zu Kontaminationen, und er musste in ein Krankenhaus eingeliefert werden, wo alle Anzeichen einer Sars-Infektion festgestellt wurden. Zu diesem Zeitpunkt war die Epidemie längst für beendet erklärt worden. Eine Untersuchung ergab, dass sich der neue Ansteckungsfall nur in dem Sicherheitslabor ereignet haben konnte.

Es würde zu weit führen, alle ähnlichen und weitere Fälle aufzuzählen. Klar ist nur, dass kein noch so ausgeklügeltes Containment verhindern kann, dass ein Laborkeim unbeabsichtigt entweicht. Was noch kein Beweis für die eine oder andere Theorie über den Ursprung des neuen Sars-CoV-2 ist. Ron Fouchier, der die Diskussion über das Für und Wider von Gain-of-Function-Forschung ja letztlich ausgelöst hatte, wurde ebenfalls zur Laborhypthese befragt. Die Antwort lautete knapp: „Nein, ich möchte nicht über diese und andere Verschwörungstheorien sprechen. Das Virus ist offensichtlich auf natürlichem Wege entstanden.“

Von der Natur ins Labor und zurück

Was soll der Mann sonst auch sagen? Dass die Natur inzwischen längst in die Labors vorgedrungen ist? Und vice versa die Produkte der Laborforschung in die Umwelt? Es ist ein unbequemer Gedanke. Aber Evolution setzt immer dort an, wo sie die besten Bedingungen vorfindet. Und der Mensch spielt fleißig mit.

Literatur: Eine ausführliche und kommentierte Publikationsliste des Science Media Center Deutschland

Neue Dokumente zur Laborhypothese