Der Apfel fällt sehr weit vom Stamm 🍏

Warum das mit dem Nachwuchs nicht so einfach ist

Apfelbaum im Herbst Kopie.jpg

Äpfel gibt es sowieso immer. Und wenn sie aus Neuseeland stammen. Golden Delicious oder Elstar, Jonagold oder Braeburn gehen nie aus. Niemand fragt, wo sie geerntet wurden. Oder wie »Omas Bester” in die Flasche kommt. Apfelsaft ist billiger als manches Mineralwasser. Hat der Apfel das verdient? Vielleicht war es so: Als Gott den Menschen davor warnte, vom Baum zu naschen, hat er eigentlich Malum, das Böse, gemeint. Und nicht Malus, den Apfel. Denn wo immer der ursprünglich wuchs – im Paradies, das nach allgemeiner Lehrmeinung irgendwo zwischen Euphrat und Tigris lag, mit Sicherheit nicht. Dort gab es wohl Granatäpfel, Quitten, Pfirsiche, Aprikosen. Selbst eine Feige könnte Eva in Versuchung gebracht haben. Nur nicht der Apfel, der ein notorischer Frostkeimer ist; sein Zuhause sind die kühl gemäßigten Zonen.

Zu den Ahnen des Malus domesticus gehören drei ungenießbare Wildarten: der Zwergapfel Malus pumila, der Holzapfel Malus sylvestris und der Kirschapfel Malus baccata. Daraus sind unzählige Zuchtformen hervorgegangen. Wobei Zucht nicht ganz den Kern der Sache trifft: Gezielt züchten lässt sich der Apfel kaum. Denn erstens ist er selbststeril und auf Befruchtung mit fremdem Pollen angewiesen. Zweitens liegt sein Erbgut nicht nur in einer Kopie vor, sondern mindestens in zwei-, manchmal auch in drei- oder vierfacher Ausführung. Diese »Polyploidie«, verbunden mit der Neukombination der elterlichen Merkmale bei jeder Bestäubung, macht die Vorhersage unmöglich, welche Eigenschaften ein Apfelsämling haben wird. Selbst die fünf obligaten Kerne, die sich in jedem Apfelgehäuse finden, sind genetisch voneinander verschieden. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich auch nur zwei von acht genetischen Markern gleichen, liegt bei eins zu einer Milliarde. Die Fortpflanzungsstrategie des Apfels ist das genaue Gegenteil von Inzucht. Durch gezieltes »outbreeding« sichert er die enorme Variabilität seiner Nachkommen. Man kann also mit Recht sagen: Der Apfel fällt ziemlich weit vom Stamm.

Will man Äpfel sortenrein vermehren, muss man sie klonen. Wer als Erster auf die Idee kam, einen jungen Apfeltrieb auf eine fremde Unterlage zu pfropfen, ist nicht überliefert Wir wissen nur, dass schon die Römer die Kunst des Veredelns beherrschten. Knapp dreißig Apfelsorten wurden auf diese Weise vermehrt. Mit den Römern kam der süße Gartenapfel nach Germanien, wo man bis dahin nur Früchte kannte, deren Säure »selbst scharf geschliffene Schwerter stumpf werden lasse«, wie Cato der Ältere lästerte. Der früheste Anbau veredelter Äpfel ist in Städten wie Xanten, Köln, Trier oder Mainz nachgewiesen. Auf dem Land fasste er erst viel später Fuß, unter Karl dem Großen, der anordnete, seine Hofgüter mit Obstbäumen zu bepflanzen. In einer Verordnung aus dieser Zeit (Capitulare de Villis) werden Apfelsorten wie Gormaringer oder Geroldinger beim Namen genannt.

Als Handelsobjekt hat der Apfel damals nicht getaugt. Die Früchte waren zu empfindlich, um sie auf holprigen Wegen durchs Reich zu transportieren. Auch waren sie deutlich kleiner, holziger und saurer als alles, was heute im Supermarkt liegt. An die hundert Sorten wird es im Mittelalter gegeben haben, sie waren wohl selten eine Delikatesse. Die Gelehrten ließen es nicht an Warnungen fehlen: Weder roh noch auf leeren Magen solle man sie verzehren. Sondern zu Mus kochen oder dörren, wenn sie schon nicht ihrem Hauptzweck zugeführt würden, nämlich der Vergärung zu Apfelwein.

Die medizinische Weisheit, rohe Äpfel seien gesund (»an apple a day ...«), ist vergleichsweise jungen Datums. Sie wurde Ende des 19. Jahrhunderts von amerikanischen Temperenzlern in die Welt gesetzt, um dem Genuss von »hard cider« einen Riegel vorzuschieben. In den Pioniertagen der Neuen Welt waren Äpfel nämlich kein Obst, sondern etwas, aus dem sich problemlos Alkohol gewinnen ließ. Praktisch jeder Farmer, der sich im Westen niederließ, pflanzte Apfelbäume und verarbeitete die Ernte zu Most. Verglichen mit dem Fusel, den man aus Getreide brannte, war er jedenfalls das gesündere Getränk.

Man hat das 19. Jahrhundert das »goldene Zeitalter der Pomologie«, also der Lehre vom Obstbau, genannt. Wahr daran ist, dass es weder zuvor noch danach eine größere Apfelvielfalt gegeben hat. In Deutschland gründeten Schlossgärtner, Pfarrer, Lehrer oder Apotheker Pomologenvereine, mit dem Ziel, den Anbau systematisch zu fördern. Der Stuttgarter Hofgärtner Johann Caspar Schiller forderte seine Landsleute auf, sie mögen, »bei einer jeden Gegend sorgfältig nachsehen, welche Gattungen Obst daselbst am liebsten, sichersten, schönsten und besten wachsen. Dieselbe wähle man zum Adaptieren und wende seinen Fleiß daran«.

Immerhin 1263 Apfelsorten nennt ein Obstratgeber Mitte des 19. Jahrhunderts, eingeteilt in 14 Klassen: Schlotteräpfel, Gulderlinge, Rosenäpfel, Taubenäpfel, Pfundäpfel, Rambour-Reinetten, Einfarbige Reinetten, Borsdorfer Reinetten, Rote Reinetten, Lederäpfel, Goldreinetten, Streiflinge, Spitzäpfel und Plattäpfel. Doch da wurden schon die ersten Stimmen laut, die vor drohendem »Sortenwirrwarr« warnen. In der Landwirtschaft hielt die Mechanisierung Einzug, gefragt waren Produkte, die sich über größere Strecken transportieren lassen. Ein erstes »Reichsobstsortiment« für den gewerblichen Anbau umfasste gerade noch zehn robuste Sorten. Auch wurden die ersten Zwergformen propagiert – Bäume, die sich leichter abernten lassen als die gängigen Hochstämme.

Als Vorbild in Sachen Effizienz galt Amerika. Dort war der Wilde Westen bereits Geschichte. Ein einzelner Mann namens John Chapman, auch Johnny Appleseed genannt, hatte die Pioniere noch mit Sämlingen versorgt, die er zu Hunderttausenden aus Kernen zog. Die meisten waren Ausschuss. Aber hin und wieder fand sich einer, der überraschende Qualitäten zeigte. Die größte Erfolgsgeschichte war einem hartnäckigen Wildling beschieden, der im Garten des Quäkers Jesse Hiatt in Iowa trotz mehrfachen Abmähens immer wieder in die Höhe wuchs und später unerwartet süße Früchte trug. Sein Entdecker nannte ihn ›Hawkeye‹ und schickte vier Ableger an die Stark Brothers Nurseries in Louisiana, Missouri, wo der Baum den verkaufsträchtigen Namen ›Delicious‹ erhielt. 1914 erwarben ihn die Stark Brothers für damals stolze fünftausend Dollar. Heute gehören ›Golden‹ und ›Red Delicious‹ zu den Apfelsorten, die weltweit angebaut werden. Ähnliche Bedeutung haben noch der ›Jonathan‹, der ›Braeburn‹, der ›Cox Orange‹, der ›Boskop‹ und der ›Granny Smith‹. Kreuzungen wie ›Fuji‹, ›Elstar‹, ›Gala‹, ›Jonagold‹ oder ›Idared‹ sind fast alle aus dem Delicious hervorgegangen.

Damit ist die genetische Basis des Tafelapfels, wie bei den meisten Nutzpflanzen, ziemlich schmal geworden. Wie viele alte Apfelsorten auf Streuobstwiesen, in Hausgärten oder Obsthainen überlebt haben, ist nicht bekannt. Schätzungen reichen von zehn- bis zwanzigtausend. An neuen, möglichst mehltau-, feuerbrandund schorfresistenten Sorten wird mit Hilfe der Gentechnik gearbeitet. Ein geplanter Freilandversuch in Quedlinburg wurde vor längerer Zeit allerdings vom Verbraucherschutzministerium untersagt. Alternative Methoden der Schädlingsbekämpfung seien aussichtsreicher, hieß es damals.

Die Risikobetrachtungen für den Fall, dass es in Deutschland eines Tages erlaubt sein sollte, gentechnisch veränderte Apfelbäume anzupflanzen, beruhen auf der Annahme, dass Äpfel von sich aus nicht groß auf Wanderschaft gehen. Dem widerspricht energisch der deutsche Pomologen-Verein. Schon heute ständen entlang von Eisenbahnlinien, an Autobahnparkplätzen, Landstraßen oder in Naturschutzgebieten auffällig viele Apfelbäume, die aus weggeworfenen Butzen hervorgegangen seien. Allein auf der ursprünglich apfelbaumfreien Insel Schiermonnikoog wurden vor Jahren neben den Spazierwegen mehr als dreihundert wild aufgelaufene Bäume gezählt. Besonders leicht keimen solche Sämlinge im Trester, der bei der Apfelvermostung übrig bleibt und manchmal ans Wild verfüttert wird.

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Enthaltsam wie der Löwenzahn

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