Schneide nie den Baum zum Scherz

Was spürt das Grünzeug, wenn der Gärtner die Säge ansetzt? Schmerzen, wie wir sie kennen, wohl kaum. Aber auch Pflanzen besitzen Intelligenz und Würde.

 

Careful With That Axe Eugene

 

Jeden Morgen kurz nach acht tritt der Nachbar vor die Haustür, pfeift ein kleines Lied und blickt prüfend zum Himmel. Wenn nicht gerade ein Sturzregen droht, krempelt er die Ärmel hoch, schon geht es los: Der Zaun will ausgebessert sein, das verblühte Staudenbeet abgeräumt, die Johannisbeeren geerntet oder das Franzosenkraut gezupft.

Der Nachbar ist ein Mann der Tat, er würde schier verrückt werden, wenn er nichts zu tun hätte. Im Winter, wenn im Garten gar nichts mehr geht, tapeziert er seine Wohnung neu oder die von Verwandten, Freunden, Bekannten, notfalls auch die von völlig Fremden. Er zeigt damit, wenn man es vornehm umschreiben wollte, eine gewisse »Tendenz zur Selbsttätigkeit um der Selbsttätigkeit willen«. Frei nach Johann Gottlieb Fichte besteht darin das Wesen des Ichs.

Für mich stellt sich die Sache komplizierter dar. Nehmen wir mal an, der Schnittlauch müsste umgetopft werden. Dann fehlt es erstens mal an Erde, weshalb nun endlich der Kompost vom Vorjahr gesiebt werden muss, wozu eine Schubkarre benötigt wird, die aber einen Platten hat, sodass ein Gang in den Baumarkt fällig wird, bei dessen Gelegenheit ich dann ein Paar neue Handschuhe erwerbe, und schon ist der halbe Tag hin, ohne dass irgendwas wirklich erledigt wäre. Wenn ich in den Garten gehe, dann so, wie sich Generalfeldmarschall von Moltke anno 1862 den Krieg gegen Dänemark vorgestellt hat. Wobei die Praxis meistens doch Clausewitz recht gibt, der davon überzeugt war, dass Feldzüge nur zu einem sehr geringen Grade geplant werden können, da unkalkulierbare Einflüsse jede Art von Planung schon nach kurzem vollständig über den Haufen werfen.

Blinder Aktionismus ist im Garten das eine Übel. Wenn der Nachbar seinen Rhabarber in die Erde steckt, ohne sich darum zu scheren, ob der Boden tief genug gelockert ist, muss er sich nicht wundern, dass das arme Gemüse keinen Sommer übersteht. Wenn ich andererseits aus jedem Umtopfen einen Staatsakt mache, wächst mir der Rest bald über den Kopf. In dieser Situation hilft wiederum eine von Goethes zahllosen Maximen, die da lautet, nichts sei schrecklicher als tätige Unwissenheit. Wissen setzt Beobachten voraus, und beobachten geht am besten, wenn man sonst nichts tut. Wenn man einfach nur dasitzt und die Dinge in sich aufnimmt. Macht die Kapuzinerkresse Fortschritte? Fühlt sich die Azalee wohl? Warum mäkelt der Salat? Man muss dabei nicht so weit gehen wie das Saarbrücker Liquid Penguin Ensemble, das vor Jahren in einem semidokumentarischen Hörspiel für den Süddeutschen Rundfunk die innige Vereinigung von Mensch und Bohnenranke akustisch nachgespielt hat. Aber man kann mit etwas Geduld tatsächlich das Gras wachsen hören. Jedenfalls im übertragenen Sinne. Dunkelgrün und saftig – dann will der Rasen bald gemäht werden. Hellgrün und von Klee durchsetzt – dann dürfte eine Düngung angesagt sein. Und so weiter.

Der Garten sagt schon selbst, was fällig wäre. Wenn man ihm die Chance dazu gibt. Aber wie gesagt: Unter Gärtnern gibt es verschiedene Temperamente. Der Eine kennt kaum Schöneres, als Obstbäume auszulichten. Mir dagegen bereitet es kein Vergnügen, Gewächse herunterzuschneiden. Sie tun mir jedes Mal leid. Aber warum? Könnte es sein, dass sie Schmerzen empfinden? Tut es dem Apfelbaum weh, wenn ich ihm den Ast absäge? Spüren tut er es, sonst würde er nicht reagieren, indem er dort neues Gewebe bildet. Viele Pflanzen, zum Beispiel der Tabak, senden alarmierende Botenstoffe aus, wenn Insekten an ihren Blättern nagen. An Sonnenblumen hat man nachgewiesen, dass Licht elektrochemische Aktionspotentiale auslöst, wie man das auch von tierischen Nervenbahnen kennt. Pflanzen fühlen, riechen, schmecken und tasten auf ihre Weise. Nur abhauen können sie nicht, wenn der Gärtner mit der Schere naht.

Tut das etwa weh?

Schon Charles Darwin hat sich mit der Frage beschäftigt, was und wie viel eine Mimose merkt. Diesbezügliche Experimente stehen allerdings unter Generalverdacht, seit sich ein CIA-Mitarbeiter namens Cleve Backster in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts mit einem Lügendetektor an seinen Zimmerpflanzen zu schaffen gemacht hat. Offenbar konnten diese Gedanken lesen. Dachte er nur daran, sie mit einem Streichholz zu versengen, reagierten sie mit empörten Ausschlägen auf der Lügenskala. Der Effekt stellte sich auch dann ein, wenn er ein Hühnerei kochte. Die Pflanzen hatten sogar Mitleid, wenn er die Bakterien im Spülbecken mit heißem Wasser verbrühte. Das breite Publikum war fasziniert, die Fachwelt weniger: Backsters Versuche wurden bald als Mumpitz entlarvt.

Eine Handvoll Botaniker ist dennoch dabei, ein neues Forschungsfeld namens Pflanzenneurobiologie zu etablieren. Die Mehrheit der Kollegen hält das zwar für Quatsch, denn Pflanzen besitzen anerkanntermaßen kein Gehirn. Aber dass das Grünzeug dumm wie Bohnenstroh ist, wäre auch nicht die ganze Wahrheit. Was spürt die Hecke wirklich, wenn ich ihr zu Leibe rücke? Der israelische Pflanzenphysiologe Daniel Chamovitz, Autor des klugen und überhaupt nicht spekulativen Buchs Was Pflanzen wissen, hat die Frage wie folgt beantwortet: »Die Pflanzen wissen schon, was vor sich geht. Aber offen gesagt: Sie geben einen Scheiß darauf.«

Das führt zu einer weiteren Frage: Mögen Pflanzen Musik? Ich war vor Jahren mal bei einem holländischen Gewächshausbauern, der behauptete, seine Tomaten gediehen am besten, wenn sie Hilversum 2 hören. Der Sender spielte den ganzen Tag Siebziger-Jahre-Pop. Gerade diesen Stil schätzen Pflanzen aber angeblich gar nicht. Woher wissen wir das? Aus den Aufzeichnungen einer gewissen Dorothy Retallack, die seinerzeit am Colorado Women’s College in Denver Musik studierte. Sie beschallte Geranien, Philodendren und andere Gewächse zum Beispiel mit »Whole Lotta Love« von Led Zeppelin oder mit »Machine Gun« von Jimi Hendrix. Angewidert strebten die Pflanzen in ihrem Wachstum möglichst weit weg von der Geräuschquelle. Ähnlich allergisch reagierten sie auf Arnold Schönbergs Zwölftonmusik. Anders verhielt sich das, wenn Dorothy Retallack klassische Kompositionen von Bach oder indische Sitarmusik zum Besten gab – dann strebten die Stengel förmlich zum Lautsprecher hin. Reproduziert wurden ihre Experimente allerdings nie, auch methodisch ließ sich vieles, wenn nicht alles gegen den Versuchsaufbau einwenden.

Dabei hat auch diese Fragestellung Tradition. Wieder mal war es Charles Darwin, der herausfinden wollte, ob Mimosen ihre Blätter schließen, wenn er ihnen auf dem Fagott vorblies – sie taten ihm den Gefallen nicht. Mitte der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts unternahmen Mitarbeiter des Botanischen Gartens in New York systematische Versuche an Studentenblumen. Diesmal kamen gregorianische Gesänge, Mozarts Symphonie Nr. 41 in C-Dur, die Big-Band-Nummer »The Stripper« sowie die Beatles mit »I Want to Hold Your Hand« zum Einsatz. Ergebnis: nicht messbar. Was nicht verhinderte, dass der Gedanke, Pflanzen seien empfindlich auf den Ohren, populär wurde: Der einschlägige Bestseller “Das geheime Leben der Pflanzen” von Peter Tompkins und Christopher Bird verkauft sich seit vierzig Jahren immer noch bestens, obwohl darin nur pseudowissenschaftlicher Unfug steht.

Aber man kann nie wissen. Bei der Entschlüsselung des Erbguts der Ackerschmalwand Arabidopsis thaliana kam heraus, das dieses typische Laborgewächs mindestens zehn Gene besitzt, die beim Menschen im Falle einer Mutation zu Taubheit führen können. Das ist jedoch kein Beweis dafür, dass die Ackerschmalwand hören kann. Die jeweiligen Proteine erfüllen nur ähnliche Aufgaben. Im menschlichen Innenohr sind sie an der Bildung von Haarzellen beteiligt, in der Pflanze regulieren sie das Wachstum der Wurzelhärchen.

Letzte Frage in diesem Zusammenhang: Haben Pflanzen Würde? Betrachten wir zur besseren Anschauung eine Tomatenpflanze im Herbst. Abgeerntet ist sie, müde geworden und zerrupft. Wäre sie ein Haustier, würde man sie noch eine Weile pflegen. Aber eine Pflanze? In der Schweiz tagte vor Jahren eine »Eidgenössische Ethikkommission für die Biotechnologie im Außerhumanbereich«. Es ging um die Frage, ob auch Pflanzen einen Wert an sich besitzen, losgelöst von allen menschlichen Interessen und Zwecken. Die Mitglieder der Kommission schlugen sich mit so sperrigen Begriffen wie Eigenwert, Entelechie, Selbstzwecklichkeit und Autarkie herum und kamen letztlich zu dem Schluss, dass es nicht in Ordnung sei, Pflanzen ohne vernünftigen Grund zu schädigen (www.ekah.admin.ch). Dieser Grundsatz ging sogar in die eidgenössische Verfassung ein und bescherte den Schweizern eine Menge Spott.

Wenn man sich konkrete Beispiele vor Augen führt, klingt das nicht mehr ganz so versponnen. Eine Rosenhecke kann einen instrumentellen Wert besitzen, weil sie vor Eindringlingen schützt. Sie kann einen relationalen Wert haben, weil sie an die verstorbene Großmutter erinnert, die sie einst gepflanzt hat;. Und sie kann theoretisch auch einen Eigenwert besitzen, unabhängig davon, ob sie jemandem nützt. Wenn der Nachbar hergeht und mutwillig ihre Zweige knickt, halten wir ihn für einen Rohling, weil, frei nach Immanuel Kant, ein Hang zum bloßen Zerstören nicht nur der Pflicht des Menschen gegen sich selbst zuwider ist, sondern weil er auch »dasjenige Gefühl im Menschen schwächt oder vertilgt, was zwar nicht für sich allein schon moralisch ist, aber doch diejenige Stimmung der Sinnlichkeit, welche die Moralität sehr befördert, wenigstens dazu vorbereitet: etwas auch ohne Absicht auf Nutzen zu lieben«.

Zu den beliebtesten Fotomotiven Deutschlands gehörte bis vor wenigen Jahren die sogenannte Bavaria-Buche in der Nähe von Pondorf. In ihrer besten Zeit hatte ihre Krone einen Durchmesser von dreißig Metern, bis ein Sturm sie 2006 in zwei Hälften spaltete. Dabei zeigte sich, dass ein aggressiver Pilz in ihr hauste. Man hätte die Buche noch mit Seilen und Stützen sichern können, wie es viele Baumfreunde forderten. Doch die Verantwortlichen beschlossen, sie »in Würde« sterben zu lassen. Ein weiterer Sturm gab ihr dann den Rest. Aus dem Samen der Bavaria-Buche sind rund tausend Jungbäume gezogen worden, einer steht inzwischen vor der Bayerischen Staatskanzlei, einer vor dem Schloss Bellevue in Berlin. Selbst postum wird sie noch geehrt.

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