Vom Hochstamm zur Superspindel 🍏

Wie der Apfelbaum im Laufe der Zeit immer mehr zurechtgestutzt wurde

Lucas Cranach der Jüngere: “Der Sündenfall” © Public domain, via Wikimedia Commons

Von Natur aus strebt jeder Apfelbaum in die Höhe, immer dem Licht entgegen. Schon ein Halbstamm bringt es locker auf sechs Meter. Doch warum soll er auch nicht? Früchte wird er irgendwann so oder so tragen, sie werden nur etwas kleiner ausfallen.

Der wesentliche Unterschied zum Wildapfel besteht beim Kulturapfel nur darin, dass man ihn bei der Vermehrung veredeln muss - eine Kunst, die schon den Römern bekannt war. Vergil beschrieb in seinem Lehrgedicht über den Landbau minutiös, wie man einen Edelreis propft. Doch von weiteren Schnittmaßnahmen ist bei ihm nicht die Rede, denn „nicht lange dauert’s, und gewaltig schwingt sich empor zum Himmel der Baum mit glücklichen Zweigen.“

Daran hat sich über viele Jahrhunderte hinweg nichts geändert. Besonders schmackhafte Sorten wurden auf den Höfen des Adels und in den Klostergärten kultiviert, die Bauern pflanzten Äpfel eher nebenbei, hauptsächlich, um sie zu Most zu vergären. Der Genuss roher Äpfel galt nach Ansicht der Gelehrten lange Zeit als ungesund.

Apfelanbau in größerem Stil hat es in Deutschland erst nach dem Ende des Dreißigjährigen Kriegs gegeben. Es entstanden Obstwiesen, auf denen gleichzeitig das Vieh geweidet und Heu gewonnen wurde (der heute verwendete Ausdruck „Streuobstwiese“ ist erst sehr viel später entstanden). Zu diesem Zweck durften die Kronen der Bäume nicht zu tief herunter reichen. Typischerweise wuchsen sie auf Hochstämmen bis in eine Höhe von zehn Metern und mehr, was einen gezielten Schnitt unmöglich machte.

Streuobstwiese in der Schweiz mit Apfel- und Birnenbestand
© Joris Egger, CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons

Den Formschnitt haben erst die Franzosen erfunden. Nicht aus praktischen, sondern aus ästhetischen Gründen. Der königliche Gärtner Jacques Boyceau de la Barauderie führte im 17. Jahrhundert in den Anlagen von Schloss Fontainebleau als erster die Kunst des Formschnitts ein; ihren Höhepunkt erreichte sie auf der Pariser Weltausstellung von 1900, wo die ausgefallensten Pyramiden, Palmetten und Kordons vorführt wurden. Als Meister des Obstbaumschnitts galt seinerzeit der französische Baumschulbesitzer Nicolas Gaucher, der die Herausbildung künstlicher Baumformen auch nach Deutschland einführte.

Sein Hauptwerk erschien 1897 unter dem Titel “Praktischer Obstbau. Anleitung zur erfolgreichen Baumpflege und Fruchtzucht für Berufsgärtner und Lieberhaber”.

Aus: “Brockhaus’ Konversationslexikon, 14 Auflage”

Das war anfangs eine Liebhaberei, die höchstens dazu diente, Spalierobst an klimatisch bevorzugten Stellen wie Hauswänden heranzuziehen. Das Binden und Pinzieren und Stutzen der Zwergbäume war ein Geschäft, das sich die Herrschaften in den Städten leisten mochten; für den Bauern war es reine Zeitverschwendung. Tafelobst war noch keine Massenware. Ein einwandfreier Winterkalvill beispielsweise wurde Anfang des 20. Jahrhunderts mit einer Reichsmark pro Stück gehandelt und landete bloß zur Dekoration auf der Festtafel.

Die Landbevölkerung tat sich mit dem Obstanbau lange Zeit schwer. Hier traten irgendwann die Pomologen in Erscheinung. Das waren Gebildete wie Pfarrer, Apotheker oder Juristen, die sich der Förderung und Systematisierung der Obstkunde verschrieben hatten. Anstelle von Wildwuchs propagierten sie eine strenge Erziehung der Bäume. Als Ideal galt der sogenannte Alt-Württemberger Schnitt, bei dem die Hauptäste in mehreren Etagen möglichst flach übereinander angeordnet wurden, um den Zugang mit der Leiter zu erleichtern. Gärtner alter Schule orientieren sich bis heute an diesem Schema.

Im Erwerbsanbau ist der Trend seitdem zu immer kleineren Bäumen gegangen. Maßgeblich gefördert unter anderem durch die Nationalsozialisten, die nach den ersten kalten Kriegswintern zur Ernährungsschlacht aufriefen: „Die Zukunftsform des Obstbaumes ist der Viertelstamm auf Sämlingsunterlage“, hieß es im April 1941 in der Zeitschrift “Deutscher Obstbau”. In der Sowjetunion setzte man ebenfalls auf Niederstämme; der stalintreue Obstzüchter Iwan Wladimirowitsch Mitschurin glaubte fest daran, dass man ihnen im Sinne einer sozialistischen Erziehung größere Frostfestigkeit beibringen könne.

Nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich die Verzwergung des Apfelbaums konsequent fortgesetzt. Wer heute durch eine Apfelplantage geht, sieht lange Reihen schmaler Spindeln, die aus einem einzigen Leittrieb bestehen, der so niedrig gekappt wird, dass ein Erntearbeiter ihn bequem noch im Stehen erreichen kann; die Äpfel selbst sitzen an kurzen, waagerecht angeordneten Fruchtästen.

Apfelplantage im Alten Land bei Hamburg © Muns, CC BY 3.0 via Wikimedia Commons

Auch da scheint noch nicht das Ende der Fahnenstange erreicht. Eine Zeitlang war die Rede von der „Superspindel“, einem Baum, der so schmächtig gehalten wird, dass auf einem einzigen Hektar bis zu achttausend Exemplare Platz finden. Derartige Pflanzungen amortisieren sich aber kaum, denn nach spätestens fünfzehn Jahren sind die angeblichen Superspindeln am Ende ihrer Kräfte.

Die Züchter hat das nicht ruhen lassen. In Kanada hatte der Obstbauer Anthony Wijcik Mitte der sechziger Jahre in einem fünfzig Jahre alten Apfelbaum der Sorte ‘McIntosh’ zufällig eine Mutation entdeckt, bei der sich der Spross nicht mehr verzweigt, sondern Knospen und Früchte direkt an kurzen, knubbeligen Spießen trägt. Verantwortlich dafür ist ein dominantes Gen mit dem Kürzel „Co“ (für columnar, säulenförmig). Es ließ sich auf andere Sorten übertragen, das Ergebnis waren Zwergbäume, bei denen das Verhältnis zwischen Holzwachstum und Blütenansatz extrem in Richtung Fruchtbildung verschoben war. Dummerweise schmeckten die Säulenäpfel nicht besonders, auch waren die ersten Züchtungen anfällig für Schorf und Mehltau.

Später gelang es immerhin, für den Hobbybedarf sogenannte „Ballerinabäume“ zu entwickeln, die sich sogar als Kübelpflanzen auf dem Balkon eignen. Im Gartencenter kann man sie rund um Ostern in voller Blüte kaufen, im Herbst sogar mit Früchten behängt.

Viel kleiner geht nicht mehr: Frühwinterapfel ‘Elstar’ in Säulenform
© AS-garten.de

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Damit kein Schnitt daneben geht 🍏