Winterblues

Trübe beginnt der Tag, die Decke fällt einem auf den Kopf. Raus ins Freie ist die einzige Lösung

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Weh mir, wo nehm’ ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein?

Friedrich Hölderlin, “Hälfte des Lebens”

Vergangene Woche war ich tatsächlich noch mal im Garten aktiv. Um die Mittagszeit steckte ich Frühlingszwiebeln. Und saß anschließend da, um den Himmel zu betrachten. Der war von fahlem Grau, was um diese Jahreszeit quasi Normalzustand ist. Ich machte mir ernsthaft Gedanken über meinen Serotoninspiegel. 

Serotonin, chemisch 5-Hydroxytryptamin, wird allgemein als Glückshormon betrachtet, das Gelassenheit, innere Ruhe und Zufriedenheit vermittelt. In größeren Konzentrationen ist es zum Beispiel in Walnüssen enthalten, etwas weniger steckt in Bananen und Schokolade. Sich damit vollzustopfen hilft aber nicht, denn der Stoff schafft es wegen der Blut-Hirn-Schranke nicht an den Ort, wo er seine Wirkung entfalten könnte. Der Körper ist leider so blöd, dass er stattdessen bei Lichtmangel vermehrt Melatonin produziert. Das macht nicht glücklich, sondern müde. Und den einen oder anderen schwermütig.

Unter Winterdepressionen leiden angeblich fast eine Millionen Deutsche. Zieht man die Zahl der unvermeidlichen Jammerlappen ab, die bloß eine Ausrede auf der Arbeit brauchen, bleiben immer noch eine Menge übrig. Denen wird empfohlen, so oft wie möglich das Freie aufzusuchen, weil selbst das trübste Tageslicht noch zehn mal heller ist als die üblichen Bürofunzeln. Lichttechniker kennen dafür einen Standardwert, er beträgt 5000 Lux, alles darunter ist Dämmerung. Wer sich davon eine Vorstellung machen will: 5000 Lux entsprechen in etwa der Außenbeleuchtungsstärke in Höhe der Stadt Kassel bei gleichmäßig bedecktem Himmel an einem 10. Dezember gegen 10 Uhr. Ab nach Kassel, könnte man allen Niedergedrückten raten.

Doch viel lieber rennen sie in die Apotheke und kaufen Johanniskraut-Pillen. Die stärkeren gibt es inzwischen nur noch auf Rezept, sie enthalten bis zu tausend Milligramm Trockenextrakt von Hypericum perforatum. Dieses Kraut wächst verbreitet in Gebüschsäumen, an Waldrändern und Böschungen und ganz anspruchslos auch auf Bahnschotter. Es blüht zur Mittsommerzeit und steht seit alters her im Ruf, die Kraft der Sonne in sich zu bündeln. Hauptinhaltsstoffe sind der rötliche Farbstoff Hypericin und das Hyperforin, dem tatsächlich eine antidepressive Wirkung zugeschrieben wird. Ähnlich wie synthetische Antidepressiva hemmt Hyperforin die Wiederaufnahme der Neurotransmitter Serotonin, Dopamin, Noradrenalin und Gamma-Aminobuttersäure und erhöht dadurch die Konzentration dieser Stoffe in der Gewebsflüssigkeit des Gehirns. Vor allzu eifrigem Einpfeifen wird allerdings gewarnt: Johanniskraut–Extrakte erhöhen die Empfindlichkeit der Haut gegenüber UV-Strahlen und beeinträchtigen die Wirksamkeit anderer Medikamente wie der Antibabypille, Blutdrucksenkern oder Antibiotika. 

In Schweden, wo den Winterblues aufgrund der geographischen Umstände weit verbreitet ist, hat das Johanniskraut sogar Aufnahme in die heimliche Nationalhymne „Öppna Landskap“ gefunden. Darin besingt der Altrocker Ulf Lundell die offenen Landschaften seiner Heimat, in denen er zur Sommersonnenwende sein eigenes Antidepressivum für die kommende Wintersnacht zusammenbraut („Där bränner jag mitt brännvin själv och kryddar med johannisört“). Zur Nachahmung sei das ausdrücklich nicht empfohlen.

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Wenn ich ein Vöglein wär’ 🦆

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