Auf die Glocke

Bloß nicht verzagen, heißt es jetzt im Garten. Denn ganz allmählich geht es mit den Schneeglöckchen wieder los.

Winter (noch nicht ganz) ade

Wenn die ersten von ihnen blühen, beginnt aus phänologischer Sicht der Vorfrühling. Für Allergiker ist das zwar keine gute Nachricht, denn dann schwirren bereits die ersten Haselpollen durch die Gegend. Und auch der Klimawandel macht sich bemerkbar. in den vergangenen drei Jahrzehnten hat sich der Blütenbeginn immer häufiger Richtung Jahresanfang verschoben. Kein reiner Grund zur Freude also. Aber für sich genommen eben doch.

 

Zum Vergrößern Bild anklicken. Quelle: Deutscher Wetterdienst

 

Das stinknormale Schneeglöckchen (Galanthus nivalis) stellt an und für sich keine besonderen Ansprüche. Wo es ihm gefällt, kann es sich wie verrückt vermehren. Das ist an frischen, winterfeuchten Standorten der Fall, unter Gehölzen, die im Sommer, wenn der Frühlingsblüher sich zurückgezogen hat, für lichten Schatten und eine gewisse Trockenheit sorgen. Die Bodenbeschaffenheit ist ihnen vergleichsweise egal, nur Staunässe mögen die Zwiebeln nicht. Und austrocknen dürfen sie auch nicht, was eine Dauerkultur in Töpfen schwierig macht. Unter günstigen Bedingungen teilen sich die Zwiebeln, und nach ein paar Jahren steht ein ganzer Pulk zusammen. Man sollte sie alle paar Jahre aufnehmen und vereinzeln, rät der Fachmann.

 

Am besten lässt man sie einfach in Ruhe

 

Aber auch wenn man das nicht tut, kann Nivalis ganze Gärten in Beschlag nehmen. Der Samen besitzt ein nährstoffreiches Anhängsel, ein sogenanntes Elaiosom, das von Ameisen verschleppt und verzehrt wird – Botaniker sprechen in diesem Fall von “Myrmekochorie”. So können die Keime Dutzende von Metern entfernt aufgehen und neue Kolonien bilden.

Weil sie so früh im Jahr erscheinen, nutzen sie jeden Sonnenstrahl. Noch der kleinste grüne Fleck der Blütenblätter treibt Photosynthese und trägt zur Versorgung der Pflanze bei, haben Botaniker der Universität Duisburg-Essen herausgefunden. Gegen den Frost wappnet sich die Schneeglocke, indem sie Stärke in Zucker verwandelt, was den Gefrierpunkt der Zellflüssigkeit um etliche Grad Celsius herabsetzt.

Das Geheimnis der Stinsenpflanzen

Das ursprünglich aus Südeuropa stammende Kleine Schneeglöckchen hat im Laufe der Jahrhunderte nicht nur die Gärten Nord- und Mitteleuropas erobert, sondern auch das Umland. Pflanzenökologen zählen es zu den Agriophyten, und wer es noch exakter haben möchte, spricht von einer Stinsenpflanze, abgeleitet vom friesischen Wort »Stins« für Steinhaus, worunter in den nördlichen Niederlanden und in Ostfriesland früher Landgüter, Pastorate oder große Bauernhöfe verstanden wurden, die von Gärten und Parks umgeben waren.

Stinsenpflanzen, zu denen neben G. nivalis auch Winterlinge, wilde Tulpen, Märzenbecher und einige alte Narzissensorten gehören, können nur in einem bestimmten Umkreis verwildern. Ihr Vorkommen deutet immer darauf hin, dass sich in der Nähe ehemals ein Garten befunden haben muss.

Sie gehen von Natur aus fremd

Schneeglöckchen neigen zu Seitensprüngen. Über Artgrenzen hinweg entstehen immer neue Bastarde. Britische Soldaten brachten im Ersten Weltkrieg die ersten Exemplare von Galanthus plicatus, dem Faltblatt-Schneeglöckchen, von der Halbinsel Krim mit nach Hause und legten so die Grundlage für ein munteres Ein- und Auskreuzen neuer Eigenschaften in die heimischen Bestände. Später bedienten sich Pflanzenjäger auch in der Türkei, wo ein Dutzend weiterer Arten heimisch ist.

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nahm der Exodus gewaltige Ausmaße an. Bis zu 80 Millionen Zwiebeln wurden jährlich ausgegraben und über Großhändler vertrieben. Schneeglöckchen gab es in den Baumärkten praktisch umsonst. 1984 schlugen Umweltschützer Alarm, sechs Jahre später wurden Schneeglöckchen in die Liste bedrohter Pflanzen nach dem Washingtoner Artenschutzabkommen aufgenommen.

Seitdem dürfen sie der Natur ohne ausdrückliche Genehmigung nicht mehr entnommen werden. In der Türkei hat man eine Sammelquote eingeführt, außerdem gibt es dort Versuche, die Pflanzen kommerziell zu vermehren. Doch ausgerechnet beim wichtigsten Exportartikel, dem Großblütigen Schneeglöckchen Galanthus elwesii, gelingt das nur mit Mühe.

Teilen klappt auch nicht immer

Hier versucht man es neuerdings mit “twin scaling”, dem Teilen einer Zwiebel durch möglichst saubere Schnitte. Das kann aber auch schiefgehen. Beim twin scaling verliert die Pflanze allzu oft ihre besonderen Eigenschaften. Bei der Sorte »Pagoda« ist das zum Beispiel die abweichende Form der Außenblätter, auch Tepalen genannt, die sich auf ungewöhnliche Weise nach oben krümmen. Außen- und Innentepalen können auch “pokuliform” sein, also mehr oder weniger gleich lang wie bei der Sorte »Angelique«. Gelegentlich zeigt die ganze Pflanze Riesenwuchs, wie bei »Deer Sloot«. Oder die Blüte ist in Teilen gelb gefärbt, wie bei der »Blonden Inge«, die man um 1970 herum auf einem Kölner Friedhof fand.

Die spinnen, die Briten

In England wechselt auf Auktionen schon mal eine einzige Zwiebel für mehrere hundert britische Pfund den Besitzer. Zum Beispiel Galanthus plicatus »E. A. Bowles«, entdeckt und ausgelesen im Jahre 2002 durch Michael Myers von der Myddelton House Society. Acht Jahre hat es gedauert, bis sich die Rarität so weit vermehrt hatte, dass sie in einer streng limitierten Katalogauflage der hochgerühmten Monksilver Nursery in Brackley, Northamptonshire, auftauchte, nur um sofort vergriffen zu sein.

Auch in Deutschland gibt es mittlerweile ein paar tausend ernsthafte Glöckchenfreunde. Zu den Pionieren gehörte der 2012 verstorbene Günter Waldorf aus Nettetal; seine jährlich veranstalteten Schneeglöckchentage zogen Scharen von Besuchern an. Er selbst sah den Rummel auch kritisch. Denn eine Massennachfrage war in seinen Augen das Ende der Liebhaberei. Das Gegenargument, so fänden eben alle sozialen Schichten zu ihrem Glück, ließ er nicht gelten. Schön sei ja gerade das Elitäre. Nach einer Blauen Mauritius, tausendmal gedruckt, würde jedenfalls kein Hahn mehr krähen.

Die Bibel der Galantophilen

Aber wen das Fieber einmal gepackt hat, den lässt es so schnell nicht wieder los. Als Bibel aller Galantophilen gilt das inzwischen das als Sammlerstück gesuchte Standardwerk “Snowdrops: A Monograph of Cultivated Galanthus”, in dem knapp fünfhundert Cultivare beschrieben werden. Was genau ein Cultivar (»cultivated variety«, abgekürzt cv.) ist, ist noch nicht endgültig geklärt. Einige Biologielexika verwenden den Begriff synonym zur Sorte, der niedrigsten taxonomischen Einheit aller Kulturpflanzen. Andere sprechen lieber von Abarten, Varietäten oder Formen.

Der Streit kommt nicht von ungefähr, denn nach dem Gesetz steht das Recht auf wirtschaftliche Verwertung einer neuen Sorte ausschließlich dem Züchter zu. Wobei “Zucht” auch wieder so ein Begriff ist: Wer einen Zufallssämling findet, ist kein Züchter, sondern ein Selektionierer, und ob er ihn sortenrein vermehren kann, steht noch dahin. Insbesondere, wenn es sich um Schneeglöckchen handelt.

Manche Merkmale der Gattung sind und bleiben notorisch instabil.

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