Das weiße Wunder

Eben war noch alles kahl. Und auf einmal stehen Büsche und Bäume in voller Blüte. Selbst böser Wille kann dagegen nichts ausrichten.

Immer vorneweg: Die Gattung der Pflaumengewächse

Wer viel mit dem Auto unterwegs ist, begegnet immer mal wieder den Einsatzkräften der Straßenmeisterei. Vom Winterdienst über die Streckenkontrolle bis zur Bearbeitung von Unfallschäden sind sie für alles mögliche zuständig. Knapp ein Viertel ihrer Zeit geht außerdem für die Grün- und Gehölzpflege drauf.

Das Wort „Pflege“ drängt sich allerdings nicht gerade auf, wenn man die fleißigen Mitarbeiter bei ihrem Tun beobachtet. Meist sieht das eher nach Kahlschlag aus. Da werden Baumreihen umgesäbelt und Hecken niedergemacht, um der Verkehrssicherungspflicht nachzukommen. „Auf-den-Stock-setzen“ nennt sich das, und wenn es fachgerecht und nicht zu häufig durchgeführt wird, ist das eine durchaus vertretbare Maßnahme.

Gegen Knicks ist nichts einzuwenden

Werden Bäume und Büsche nämlich nicht zu tief geschnitten, schlagen sie aus schlafenden Augen wieder aus, nach acht bis zehn Jahren hat sich der Bestand erholt und ist sogar dichter als zuvor. In Norddeutschland hat man früher auf ähnliche Weise Wallhecken angelegt, und zwar durch Knicken und Beugen junger Zweige. Solche „Knicks“ oder beiderseits der Straße wachsende „Redder“ stehen inzwischen sogar unter Naturschutz, weil sie der Winderosion vorbeugen und von allerhand Getier bevölkert werden.

Fährt man nun in diesen Tagen über Land, kommt man manchmal aus dem Staunen nicht heraus. Denn nicht überall ist das sogenannte Straßenbegleitgrün der Säge zum Opfer gefallen. Hier und da explodiert die weiße Pracht förmlich.

Verantwortlich dafür ist die Gattung der Pflaumengewächse, von der mancher Vertreter je nach Witterung schon vor dem Blattaustrieb zu blühen beginnt. Der Pfirsich gehört dazu und die Schlehe, die Kirsche, die Mirabelle, das Mandelbäumchen und sogar die in jüngster Zeit in Verschiss geratene Lorbeerkirsche.

Wenn die Knospen so weit sind, braucht es nur noch ein paar warme Tage

Die Pflaume treibt es wild

Wie man die alle auseinander hält (beziehungsweise unter einen Hut bringt), ist ein ergiebiges Thema für Taxonomen. Mit wenig praktischem Wert, muss man sagen.

Von der Kulturpflaume Prunus x domestica beispielsweise weiß man nicht einmal, wie sie entstanden ist. Lange Zeit wurde sie als sogenannter Additionsbastard aus Schlehe und Kirschpflaume gehandelt. Davon sind die meisten Experten inzwischen wieder abgerückt. Zu ihren Vorfahren gehört wohl die Kirschpflaume P. cerasivera, die nachweislich seit der Jungsteinzeit verzehrt wurde.

Genauso lange scheint sich die Zibarte (subsp. prisca) gehalten zu haben, die gern als Wildpflaume bezeichnet wird. Man destilliert daraus, etymologisch schon wieder leicht daneben, ein besonders aromatisches Zwetschgenwasser. Aber Zwetschgen sind noch einmal etwas anderes, ganz zu schweigen von Halbzwetschen, Reneclauden, Hafer-, Rund- und Eierpflaumen, die zu allem Überfluss auch noch Übergangsformen bilden.

Nimmt man schließlich die Sorten und Zuchtformen hinzu, die im Handel unter der wenig hilfreichen Bezeichnung “Wildpflaume” angeboten werden, ist man vollends verwirrt. Vieles davon wächst einfach nur so in der Gegend herum, ohne dass sich jemals einer darum gekümmert hat.

Da hilft auch kein Bestimmungsbuch weiter

Einmal glaubte ich, auf meiner Wiese eine »Damaszener-Pflaume« identifiziert zu haben, frühreif und mit hell- bis dunkelroten kleinen Kugelfrüchten. Es war aber eine wilde Mirabelle (subsp. syriaca). Ein anderer Baum trug schon im Juli dunkelviolette Früchte. Sie schmeckten ganz hervorragend, aber bitterer als gewohnt. Ob das ein Zufallssämling war? Oder eine alte Kultursorte, die ein längst verstorbener Obstbauer hinterlassen hat?

Wie auch immer. Der Blütezeit der wilden Pflaumen währt nur kurz. Kaum haben sie sich entfaltet, rieseln sie schon wieder zu Boden. Aber es ist und bleibt jedes Jahr ein großartiges Schauspiel.

Deutschland war mal Steppe

Ich stelle mir manchmal vor, wie dieser abrupte Ausbruch des Frühlings auf Menschen wirken muss, die aus Wüstenstaaten wie Syrien oder dem Irak nach Deutschland ausgewandert sind. Eben war noch alles kahl kalt und trostlos, und auf einmal erwacht die Natur mit einer Macht, die an ein Wunder grenzt. Das ist es ja auch, wenn man bedenkt, das die jüngste Eiszeit hierzulande gerade mal zehntausend Jahre zurückliegt.

Mitteleuropa war damals eine nahezu baumlose Steppenlandschaft, was kein Kraut war, musste allmählich erst wieder aus dem Süden nachrücken. Vom Eise befreit waren Strom und Bäche die längste Zeit nicht.

Die Erinnerung daran hat sich offenbar kollektiv erhalten. Ein Teil der Bevölkerung kann es jedes Jahr noch heute nicht erwarten und nimmt den umgekehrten Weg über die Alpen, um die Mandelblüte bereits Ende Januar auf Mallorca zu erleben.

Traurige Tropen

Vielleicht ändert sich das mit der Klimaerwärmung, vielleicht auch nicht. Ich würde etwas vermissen, wenn die kalte Jahreszeit ausfallen und man nur noch Regen– und Trockenzeiten kennen würde. “Traurige Tropen” fand der französische Ethnologe Claude Levi-Strauss, als er zum Amazonas reiste.

Erst wer den deutschen Winter überlebt hat, kann sich so richtig für den den deutschen Frühling begeistern.

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